ÜBER GRENZEN UND AUSSICHTEN IM UNBEGRENZTEN — JOSEF A. TILLMANN

Mátyás Misetics

 

 

„Die Erkundung des Himmels ist die älteste Wissenschaft”[1], behauptet der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer, zu Recht. Es ist anzunehmen, dass die Erkundung des Himmels am Lagerfeuer begann. Demnach zähmten wir – neueren Erkenntnissen zufolge – vor achthunderttausend Jahren die Flammen. Unsere Vorgänger betrachteten, wenn sie Glück hatten, jeden Tag, lebenslang das Feuer. Nicht nur das ruhige, auch das aufflackernde, funkenschlagende. Auffliegende Funken erscheinen vor dem Nachthimmel wie erglimmende Sterne, die aufgehen und erlöschen. Dieses Wechselspiel war das Dauerprogramm, die ständige Sendung einer Art von Ur-Fernsehen.

Doch das Betrachten des Feuers führt einen weiter: ins kosmische Licht. Die Astrophysik lehrt uns, dass der Ursprung beider derselbe ist. Allerdings verfügen wir intuitiv durch Kontemplation des Feuers eigentlich über dieses Wissen schon seit einer halben Ewigkeit.

Die Feuerstellen wurden gewechselt, wie auch die Konstellationen sich verändern. Mit der Zeit änderte sich nicht nur der Sternenhimmel, auch unsere Sichtweise auf die himmlischen Aussichten hat so manche Änderung erfahren. Nichts zeigt das eindeutiger, als der Wandel unserer Himmelsbetrachtung, die kosmisch gerichtete Kontemplation. Contemplatio – das war einst die Betrachtung eines quadratischen Ausschnittes des Himmelsgewölbes. Das Instrument, das dazu diente, hatten bereits etruskische Fachkräfte errichtet, und sie nannten es Templum. Dies ist auch der Ursprung unseres aus dem Lateinischen übermittelten Tempel-Wortes. Der innere Bezirk des Templums war heilig. Die Spezialisten kontemplierten in dem durch genau definiert Grenzen festgelegten ‘Visierraum’.

In der Antike gab es noch eine weitere methodisch praktizierte Himmelsbetrachtung, welche schon eher mit der heutigen Bedeutung der Kontemplation zusammenhängt. Sie wurde von Philosophen ausgeübt und war Teil der Ausbildung. So wurde in den Philosophenschulen techkné tou biou, Lebenskunst gelehrt. Die Exerzitien dienten nicht nur zum Erlernen der Gedankenführung; nicht weniger wichtig war die Einübung der Lebensführung. Betrachtungsweisen wurden einstudiert, wie auch Verhaltensweisen. Von Anfang an ging es besonders um die Ausbildung der Aufmerksamkeit. Dabei war eine Übung auch das Aufheben des inneren Gesichspunktes. So kam es zur Aufstieg der Seele. Erst in die Vogelperspektive, dann noch höher hinauf.[2]

Die antike Philosophie hat den Seelenflug nicht mit dem Traum des Fliegenkönnens verbunden, sondern vielmehr mit der Vorstellung der Fähigkeit des Denkens – das von der göttlichen Natur der Seele herrührt –, sich über Raum und Zeit zu erheben.[3] Der Flug bestand darin, die Menschen und die Dinge vom Blickpunkt der Universalnatur aus zu betrachten – und dies nicht nur mit Hilfe einer theoretischen Naturlehre, sondern hauptsächlich durch philosophische Übungen. „Insbesondere könnte man sagen” – so der Philosophiehistoriker Pierre Hadot –, „dass die Platoniker, Stoiker und Epikureer neben der theoretischen Physik zugleich eine praktische Physik erfunden haben, die sich als eine Übung der Phantasie begreift, welche die unendlichen Räume des Universums durcheilt.”[4]

Die Übungen waren wahre Kontemplationen, das Verinnerlichen des universellen Betrachtens, das Verweilen in Augenhöhe mit den Sternen und Göttern im Weltraum. Gleichzeitig hatte dies aber auch einen praktischen Zweck: „Die gelebte Physik des Universums” – schreibt Hadot weiter, „dient in allen Schulen dazu, die menschlichen Dinge verachten zu lernen und die innere Ruhe zu erlangen.”[5]

Heute betrachten selbst Astronomen nicht mehr den Himmel. Stattdessen werden wieder viereckige Visierfelder, Computermonitore, kontempliert. Mit Fernrohren sind nur noch Amateure bestückt; sonst ist diese Sorte von Wissenschaftlern vom Aussterben bedroht. „Man kann heute in Astronomie promovieren, mit Daten arbeiten, und trotzdem kein einziges Mal in den Himmel gesehen haben”, schreibt der Astronom Aleks Scholz, um dann resigniert festzustellen: „Die Ära der Himmelsbeobachter geht damit zu Ende.”[6]

Wandlungen der Deutungsmuster des Himmels

Der ungarische Allround-Künstler und Querdenker Miklós Erdély behauptete in einem Vortrag, dass „die siebziger Jahre die der kosmischen Hoffnungslosigkeit waren”.[7] Dies ist eine ernstzunehmende Behauptung, nicht zuletzt deshalb, weil seine Kenntnisse über den Stand der aktuellen Forschung der Astronomie und Theorien der Kosmologie umfassend waren. Er hatte außerordentlich empfindliche Antennen, und der Wissenstransfer auf diesem Gebiet funktionierte inmitten des damals real existierenden Sozialismus ziemlich gut. Seiner Meinung nach beschäftigen wir uns doch alle mit der Hoffnungslosigkeit, nur dass wir dies meistens verdrängen.

Nicht dass Miklós Erdély ein angeborener Pessimist gewesen wäre, im Gegenteil. Zwar hat er keine antike Philosophenschule besucht, aber er hatte einige Übung im Seelenflug – wie sich in dem folgenden aphoristischen Fragment zeigt: „Wenn du deine Augen auf zweierlei richtest, auf das immer Kleinere und das unüberschaubar Große, dann siehst du ein, daß du ein und dasselbe siehst, und dein alltäglicher Kummer verschwindet.”[8]

Die Epoche wurde nicht nur von Erdély als hoffnungslos charakterisiert. Auch die Kunsthistorikerin Eva Díaz stellte fest, dass „der kosmische Optimismus verschwunden ist, wenn nicht ganz beendet”.[9] Dazu gehört, dass den Jahren der kosmischen Hoffnungslosigkeit die Jahre der kosmischen Hoffnung vorausgingen. Die Menschen der 60er Jahre lebten in der Faszination eines verheißenen Landes: Diesmal war das Gelobte Land der Mond.

Die Nachwirkungen der raketentechnischen Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges hatten ihre Folgen: das erste Raumschiff (1957), dann der erste Mensch im Weltraum (1961). Beides waren sowjetische Errungenschaften, wie auch bald die Luna-Sonden, die auf dem Mond landeten. Chruschtschow, in dieser Zeit Parteichef der KPdSU, prahlte, dass sie „die ersten in der Welt sind, die eine Bahn von der Erde zum Mond in den Himmel brennen”.

Eine Bahn in den Himmel brennen – das klingt doch schön!

All dies hatte eine unbeschreibliche Wirkung, nicht nur in technischer, waffentechnischer und politischer Hinsicht, sondern gerade eben auch durch die Mobilmachung der kollektiven Phantasie.[10] So haben sich die Augen, die sich im Laufe jahrhundertelanger Modernisierung immer mehr auf die Erdenfläche gesenkt hatten, sich wieder gegen den Himmel erhoben. Nicht nur die kleine Schar der Astronomen spähte in den nächtlichen Himmel; durch den medialen Auftrieb wurde das Interesse an den himmlischen Ereignissen alltäglich. 1961 verkündete Kennedy das Programm der Mondlandung; als dessen Höhepunkt landete 1969 unser Vorposten auf dem Mond. Neil Armstrong hat diesen einen Schritt getan, der nicht nur der eines einzelnen Menschen war. Mit ihm kam gewissermaßen die ganze Menscheit..

Doch in dieser Dekade entfaltete sich nicht nur die gemeine Phantasie. Auch die künstlerische und wissenschaftliche Einbildungskraft erlebte ihre Blütezeit. In der Science-Fiction-Literatur entstanden in diesen Jahren die Hauptwerke von Isaac Asimov, Arthur C. Clarke und Stanislaw Lem. Auch in der Musik gab es eine kosmische Welle, angefangen vom Song of the Second Moon[11], über Interstellar Owerdrive von Pink Floyd bis zu Sun Ra, und nicht zuletzt Stockhausens Kontakte und ebenso die Stücke von Steve Reich.

In der Kunst dagegen war der Aufschwung etwas geringer, obwohl die Schriften von Buckmister Fuller beachtlich Resonanz erzielten. In der damals aufstrebenden Wissenschaft, der sogenannten Futurologie, gab es nur blasse Ergebnisse, umso mehr jedoch auf dem Gebiet der Grundlagenforschung, Astronomie und Kosmologie.

Mit der Mondlandung wurden so manche kosmischen Hoffnungen wahr. Andere wiederum sind spektakulär gescheitert. Doch das Ausmaß der darauffolgenden Ernüchterung ist heutzutage kaum noch zu spüren.[12] Der Gelobte Mond ist kein sehenswerter Ort. Es gibt dort keinen sanften Rasen, keinen weichen Strand, auch kein laues Wasser und kein grünes Laub, stattdessen Kälte und Leere. Doch Besseres als die lunaren Aussichten können auch die kosmischen Fernen nicht bieten. Ungeheure Kälte, durch Lichtjahrtausende führende Räume wechseln sich ab mit unvorstellbarer Hitze und Dichte. Kein sehr verlockendes Ziel für Weltraumreisende.[13]

So ist anzunehmen, dass esh Miklós Erdély wie einst Pascal vor diesen unendlichen Räumen schauderte.

 

Am Abend der Analogie

 

Jede dieser beiden Stimmen, die der Empfindung von Schaudern und von  Hoffnungslosigkeit, ertönen an einer Epochenwende: Pascal äußert es am Anbeginn der Modernität, am Anfang der analogen Deutung der Welt, Erdély spricht es am Abend der Analogie aus.

Analogie ist ana logos – Übereinstimmung, der Logik entsprechend. Die analoge Deutung der Welt ist vor einigen Jahrhunderten entstanden und war bis zur Verbreitung des Digitalcomputers vorherrschend. Früher wurden alle Dinge, Gegenstände und Phänomene der Welt anders gedeutet, sowohl in unserer als auch in anderen Kulturen.

Die analoge Betrachtungsweise führte – der verbreiteten Formulierung folgend – zur Entzauberung der Welt. Diese ist ein etwas übertriebener Befund, denn schon ein zauberhafter Abendhimmel lässt sich nicht bloß als kontingente Veränderung der Lichtbrechung in den verscheidenen Luftschichten deuten. Statt von Entzauberung sollte daher eher von einer Neutralisierung des Kosmos (Charles Taylor)[14] die Rede sein. Das trifft den Bedeutungswandel in den Jahrhunderten der Moderne besser. Heute ist das Weltall irgendetwas da draußen. Man hört darüber interessante Berichte, doch das Ganze berührt einen nicht mehr besonders.

Früher hatte man zum Himmel eine enge und unmittelbare Beziehung; er galt als Aufenthaltsort der Götter. In den biblischen Religionen ist er Teil des Sechstagewerkes und Erscheinungsort des Ewigen. Und noch für Isaac Newton war der Weltraum Sensorium Gottes. Von Entzauberung zu sprechen, ist ohnehin nicht zutreffend, denn nicht nur im ästhetischen Empfinden, sondern auch in der heutigen Physik findet man zauberhafte Phänomene. So beschreibt zum Beispiel George Musser, Redakteur des Scientific American, die Ereignisse der Fernwirkung: „Nichtlokalität ist wie Magie. Wie gesagt, das Nächstliegende zur Magie, was wir in der zeitgenössischen Wissenschaft haben: wenn etwas, was hier ist, sofort eine Wirkung anderswo, auf einem völlig verschiedenen Platz haben kann – vielleicht eben durch das Zimmer, durch das Universum.”[15]

Entzaubert sind die Geheimnisse des Weltalls allemal nich.; Im Gegenteil, viel eher vollzieht sich am Abend der Analogie eine Wende. Das All zeigt sich zunehmend geheimnissvoll und zauberhaft – in der Atomphysik wie in der Astrophysik. Denn diesen voneinander weit getrennten Forschungsgebiete haben einige gemeinsame Geheimnisse. Eines von ihnen ist die sogenannte Dunkle Materie.[16] Der Name täuscht, denn dunkel ist noch Teil der wahrnehmbaren Welt. Was aber „Dunkle Materie” genannt wird, ist nicht nur unsichtbar, sondern nicht detektierbar. Es lässt sich „mit keiner Wellenlänge nachweisen lässt”.[17]  Aus dieser n Materie sollen jedoch zwei Drittel des ganzen Universums bestehen. Sogar „meint man, dass 90 % der in Galaxien mit Spiralstruktur vorhandenen Materie unsichtbar ist”.[18]

Die Wissenschaft schreitet beständig voran. Es wird geforscht, das Wissen erweitert. Indes hat der Astophysiker Gerhart Börner zur Jahrtausendwende die Bilanz des Fortschritts gezogen: „In den letzten 25 Jahren haben wir also unser Nichtwissen vom kosmischen Substrat systematisch erweitert.” [19]

Mit dem Wissen nimmt das Nichtwissen zu. Und doch ist der wissenschftliche Fortschrittsoptimismus ungebrochen. Die systematische Erweiterung des Nichtwissens gründet in einer eigenartigen Dynamik, welche die ganze moderne Wissenschaft durchdringt. Die Verheißung wahrer Erkenntnis, die Beantwortung der unbeantworteten Fragen, wird fortwährend  in das Futurum verschoben.

 

Grenzen und Überschreitungen

 

Auf dem Grabstein von Sir William Herschel, einer der größten Astronomen, ist zu lesen, dass er „die Grenzen des Himmels durchbrach“. Er war es, der vor etwa zwei Jahrhunderten den Himmel gänzlich neu aufgerollt hat. Heute erfahren wir aus der wissenschftlichen Forschung fast jede Woche von neu entdeckten Galaxien, neuen Zwillingen der Erde, von neuen und immer größeren Schwarzen Löchern. Hinter den früher erahnten Grenzen des Himmels eröffnen sich immer neue Grenzen und mit ihnen wiederum neue Grenzenlosigkeiten. Bezeichnend hierfür ist ein Resümee des theoretischen Physikers Harald Fritzsch: „Wir haben jetzt die Grenze der heutigen Forschung erreicht. Noch sind viele Dinge unklar.”[20]

Anscheinend sind die Räume der Unklarheit und des Unwissens unendlich wie das Weltall selbst. „Das moderne Universum ist ein Naturreservat für das Unwissen”, so der Astronom Aleks Scholz, „hier darf es sich ungestört vermehren.”[21] Aber Scholz gehört mit seiner Skepsis und Selbstironie zu einer Minderheit unter den Wissenschaftlern. Die Mehrheit ist optimistisch, sogar verblendet von den Verheißungen der neuen Technologien. Manche vertreten völlig abgehobene Meinungen: „Die Physik ist ja inzwischen als exakte Wissenschaft in Bereiche vorgedrungen, die früher der Philosophie und Theologie vorbehalten waren. Und diese Grenze wird immer weiter verschoben.”[22] So der Physiker Hermann Nicolai. Demnach werden unsere avancierten Forscher bald die allerletzten philosophischen und theologischen Fragen beantworten. Fast wie einst der erste Kosmonaut, Jurij Gagarin, der behauptete, Gott während seines Raumfluges nicht begegnet zu sein.

Aber die Grenze dessen, worüber die Wissenschaft spricht, trennt nicht die Bereiche der Physik und der Metaphysik voneinander. Diese liegen nicht auf derselben Ebene. Sie können keine gemeinsame Grenze haben. Es ist nur die Erkenntnisgrenze, welche die Physik aufhält. Sie besteht nicht nur aus erkenntnistechnischen Hindernissen, sondern auch aus den aktuellen Paradigmen, den gängigen Theorien der Physik.

Die ständige Vertröstung auf die Zukunft hat George Musser im Innersten aufgewühlt: „Ich neige dazu zu denken”, sagte er, „daß eine Theorie nur dann verstanden wird, wenn man die nächste Theorie hat. […] Dann wird sich natürlich das Mysterium in die neue Theorie bewegen.”[23] Und so scheint es „als ob die Evolution der Vorstellungen über den Kosmos selbst wichtiger wäre als die Wahrheit über ihn”, wie Rémy Brague zur Moderne in seinem bedeutenden Buch Kosmos und Welterfahrung bemerkt. [24]

Tragfähige Erkenntnisse über die kosmische Evolution sind jedoch schwerlich zu finden. Vieles lässt an den gängigen Theorien zweifeln, auch an der Standard-Urknall-Theorie: „Je weiter wir jedoch zurückgehen, desto weniger verstehen wir”, bekannte  Hermann Nicolai, „und an einem bestimmten Punkt bricht unsere Beschreibung vollständig zusammen.”[25] Doch gelten kosmische Ursprungs-Theorien, vor allem über das Entstehen des Universums aus dem Nichts (genannt Vakuumfluktuation), nicht nur unter Laien, sondern auch unter Kosmologen und Astrophysikern als unbestreitbare Deutungen des Weltwerdens.[26] In der Darstellung Harald Fritzschs heißt es: „Beim Übergang vom symmetrischen Vakuum zum unsymmetrischen, der nach den Vorstellungen der Experten kurz nach dem Urknall geschehen sein muß, wurde eine gewaltige Energie freigesetzt, die ‘Schmelzwärme’ des Vakuums. Die Kosmologen vermuten, daß bei diesem Umwandlungsprozeß die heute vorliegende Materie entstanden ist. […] Sollte es sich erweisen, daß diese Idee, die inzwischen von vielen auf dem Gebiet der Kosmologie tätigen Physikern verfolgt wird, richtig ist, dann wären wir selbst, genauer die Materie, aus der wir bestehen, das Produkt des Vakuums.”[27]

Offenkundig gründet diese hauptsächlich von Steven Hawking entwickelte Theorie auf logischen Fehlschlüssen. (In seine Berechnungen führt er den Begriff einer imaginären Zeit ein, behandelt sie jedoch später als reale Zeit …[28]) Aber auch in ihrer Struktur haben diese Kosmologien eine große Ähnlichkeit mit den archaischen Kosmogonien, den Weltenstehungs-Mythen. [29]

 

Nach der kosmischen Hoffnungslosigkeit

 

Vor dem breiten Horizont der universalen Erkenntnisgrenzen gibt es aber auch gute Nachrichten. Durch die Digitalisierung wurde die Entwicklung der Speicherung und der Kodierung forciert. Seit der Jahrtausendwende laufen die Rechner nicht nur auf Siliziumbasis. Für die Speicherung werden immer neue Elemente verwendet, auch auf organischer Basis. Jedwede Materie scheint geeignet zu sein, nicht-analoge Informationen zu speichern: Steine und Kristalle, Mineralien, tote und lebendige Gegenstände. Als ich vor mehreren Jahren die Entwicklung dieses digitalen Universums verfolgte, kam mir der Gedanke, dass der Kosmos nicht nur analoge, sondern auch anders verschlüsselte Kodierungen haben könne, solche, die wir bisher nicht nur nicht zu entschlüsseln, sondern überhaupt anzunehmen unfähig waren.

Auch ist da die Ahnung, das wir uns in einer Zeit der Wende befinden, die weit mehr ist als ein Paradigmenwechsel und vielleicht nur mit der kopernikanischen Revolution zu vergleichen ist. Denn die kopernikanische Wende führte nicht nur zu einem neuen, heliozentrischen Weltbild. Ihre entscheidende Konsequenz bestand in der „Spaltung zwischen der sinnlichen und der begrifflichen Erkenntnis, zwischen der Welt der Erscheinungen und der Welt der Theorien, zwischen dem ästhetischen und rationalen Zugang zur Wirklichkeit”. [30]

Für uns, die wir in einer mehrfach gespaltenen kopernikanischen Welt geboren sind, zeigen sich heute neue kosmische Perspektiven und die Vorstellung von einem anders gemusterten Universum. Neulich erfuhr ich, dass John Archibald Wheeler, einer der bedeutensten theoretischen Physiker, schon früher auf ähnliche Gedanken gekommen ist. Er formulierte bereits 1990 seine  „It from Bit”-Doktrin. „’It from Bit’ bedeutet, dass die Welt ultimativ auf digitalen Informationen beruht. Das Universum als gigantischer Computer, eine Idee, die heute unter theoretischen Physikern recht beliebt ist.”[31]

Der Umgang mit dem Sinnbild des Computers ist ganz allgemein mit Skepsis zu betrachten. Unser Gehirn wird oft mit einem Rechner verglichen, doch ist diese Metapher nach Ergebnissen der Hirnforschung offenbar unangemessen. Wir sind anders vernetzt, von Unterschieden der Komplexität und der Hardware ganz zu schweigen. Hingegen scheint eine nicht-analoge Betrachtung des Universums fruchtbar zu sein. Sie regt dazu an, den Kosmos auch als Informationsspeicher und als Medium zu verstehen.

Diese Idee ist auch von der Medientheorie aufgegriffen worden: „Wenn Medien materielle Konfigurationen sind, die Informationen speichern, bearbeiten und übertragen, dann kann jedes Element dieser Welt Teil einer medialen Konfiguration sein oder werden; vom Sandkorn in der Wüste bis zur chinesischen Mauer; von der menschlichen Körperzelle bis zum Brillenscharnier. Der Blick auf diesen grundsätzlichen und simplen Sachverhalt wird stetig dadurch getrübt, daß Medien von der Kommunikation als einem menschlichen Sinngebungsprozeß her gedacht werden.” [32]

Wenn man also Medien universal und nicht nur als Prozess der menschlichen Sinngebung auffasst, dann stellt sich die Frage des absoluten Gedächtnisses, auch in der Form, wie sie der jüdische Religionsphilosoph Jacob Taubes formuliert hat: „Gott ist das absolute Gedächtnis; und für ihn gibt es kein Vergessen.”[33] Das All eignet sich offenbar als Gedächtnisträger, als absoluter Speicher. Taubes behauptet dies nicht ohne Grund; in der Heiligen Schrift finden sich diesbezügliche Hinweise, sowohl im Alten als auch im Neuen Testament. Es sei hier nur eine Stelle erwähnt: „Gott vermag aus diesen Steinen Kinder zu erwecken.” (Matthäus 3, 9) Sogar aus Silizium.

Fortan sollten wir also den Kosmos auf zweifache Weise betrachten: Während wir unseren Augen glauben, müssen wir zugleich zweifeln. Beim Kontemplieren der unfassbaren und erhabenen Schönheit des Sternenhimmels sollten wir zugleich an unserem analogen Wahrnehmen und Denken zweifeln. In dieser schwierigen Lage können wir uns an die Kunst wenden. Genauer gesagt, an jene Kunst, die lange Zeit als Kunst der Künste galt: an die Musik. Musik hat seit jeher ein inniges Verhälniss zum Kosmos unterhalten; seitPythagoras ist uns die Idee vertraut, dass der ganze Himmel Harmonie und Zahl ist. Diese innige Beziehung zwischen Musik und Kosmos inkorporiert sich manchmal in einer ebenso musikalisch wie wissenschaftlich begabten Person.  So in der Person Sir William Herschel,s der nicht nur einer der besten Astronomen aller Zeiten war, sondern auch ein talentierter und anerkannter Musiker: Komponist, Dirigent, Oboist, Organist, Solist und Konzertmeister.[34]  Er lebte in einer günstigen Zeit, als Musik und Astronomie wie auch Kosmologie und Musiktheorie noch ineinandergreifen konnten und – dank der überlieferten neupythagoreischen Spekulationen – „die Musik harmonisch begründet und mit dem Makrokosmos (= Natur) im Gleichklang” war.[35]

Ein deutscher Zeitgenosse Herschels, der Physiker und Philosoph Johann Wilhelm Ritter, hat dieses Verhältnis unübertrefflich in Worte gefasst: „Der Gehörsinn ist unter allen Sinnen des Universums der höchste, größte, umfassendste, ja es ist der einzige allgemeine, der universelle Sinn. Es gilt keine Ansicht des Universums ganz und unbedingt, als die akustische.”[36]

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Erschienen: TUMULT 2020 / Sommer, S. 50-56.

Copyright :Josef A. Tillmann

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[1]          Ernst P. Fischer: Der Blick an den Himmel , in Mensch und Kosmos. Unser Bild des Universums (Hg. Ernst P. Fischer und Klaus Wiegand), Fischer, Frankfurt, 2004. S. 21.

[2]          „Wir finden in allen Philosophieschulen dieselbe Vorstellung von der philosophischen Art, die Dinge zu sehen, wieder: den Flug im Kosmos und den Blick von oben.” Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Berlin 1991. S. 128.

[3]          Ebenda.

[4]          Ebenda.

[5]          Ebenda.

[6]          Aleks Scholz: „Lichtjahre später”. Kolumne auf CulturMag, 19.12.2012 http://culturmag.de/category/rubriken/lichtjahre-spaeter

[7]          Erdély Miklós: „Előadás a kiállításról”, in: Erdély Miklós: Művészeti írások. Budapest,1991.

[8]          Mondolat: Acta Historiae Artium (übersetzt von Hannelore Schmör-Weichenhain), Tomus 39., 1997. p. 215.; http://arthist.elte.hu/Tanarok/SzoekeA/fulltexts/ACTA/ACTA_elemei/page0001.htm

[9]          „They register an elegiac sense that the era of space exploration as a program of knowledge acquisition, interspecies communication, and even intergalactic colonization—in short, the epoch of cosmic optimism—has receded if not ended.” (Eva Díaz: „We Are All Aliens”, in: Journal #91, May 2018)

https://www.e-flux.com/journal/91/197883/we-are-all-aliens/, 10.06.2018.

[10]              Oriana Fallaci: Wenn die Sonne stirbt. Düsseldorf 1966.

[11]         Tom Dissevelt & Kid Baltan: Song of The Second Moon, 1959.

[12]         Verglichen mit den damaligen Erwartungen ist es aber riesig. Wie man aus dem Reportagenbuch der Oriana Fallaci erfahren kann, hatten die Entwickler und Teilnehmer des Apollo-Programs ganz konkrete Vortellungen darüber, wie sie in einigen Jahren die Wochenenden auf dem Mond, den Sommerurlaub auf der Venus oder auf dem Mars verbringen würden. Zu der Zeit, als der Mensch zum erstenmal den Mond betrat, erklärte z.B. Wernher von Braun, übrigens kein Phantast, eher ein Pragmatiker, der früher ein Hauptkonstrukteur der nationalsozialistischen Raketentechnik (V1, V2) war, später “Vater” der amerikanischen Raumfahrt: “In Zukunft wird es genauso nützlich sein, den Weltraum kennenzulernen, wie Autofahren zu lernen.”

[13]         „Im Gegensatz zu den Reisenden auf dem Erdball haben die Reisenden im Weltraum gar keine Chance, wirkliches Neuland zu erreichen. Kosmonauten und Astronauten sind sich darüber im Klaren und enstprechend nüchtern. Es ist ihnen bewusst, dass sie nicht als Entdecker, sondern bloss als Beobachter unterwegs sind.” (Aleks Scholz, a.a.O.)

[14]         Charles Taylor: Sources of the Self. The Making of the Moder Identity. Cambridge 1989. S. 148.

[15]         „Nonlocality is like magic. As hasbeen said, it’s the closest thing we have to magic in contemporary science: when something here, in one place, can affect something there, in a totally different place — maybe even across the room, across the universe — instantly.(Sarah Lewin: „ ‘Spooky Action at a Distance’. Author George Musser Talks Physics Loopholes.”) https://www.space.com/31066-spooky-action-at-a-distance-book-interview.html. 10.11.2015.

[16]         „Dunkle Materie ist eine postulierte Form von Materie, die nicht direkt sichtbar ist, aber über die Gravitation wechselwirkt. Ihre Existenz wird postuliert, weil im Standardmodell der Kosmologie nur so die Bewegung der sichtbaren Materie erklärt werden kann.” Wikipedia, Stichwort „Dunkle Materie”, 10.06.2018.

[17]         Gerhart Börner: „Der Blick an den Himmel, in: Ernst P. Fischer/Klaus Wiegand (Hg.): Mensch und Kosmos. Unser Bild des Universums. Frankfurt/Main 2004. S. 51.

[18]         Ebenda.

[19]         Ebenda.

[20]         Harald Fritzsch: Die verbogene Raum-Zeit. Newton, Einstein und die Gravitation. München/Zürich 2000, S. 361.

[21]         Aleks Scholz, a.a.O.

[22]         Der Tagesspiegel, 29.12.2017. http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/sonntag/astrophysiker-nicolai-ueber-den-anfang-des-universums-wir-sind-so-unvorstellbar-unbedeutend/20786072-all.html

 

 

[23]         I’m projecting into the future on this, which is always a perilous thing to do, but I think [it will involve] both. I think some deep thinking has to be done here, but clearly, after 80-some-odd years of thinking, and disagreements are still quite live, I don’t think that will be enough. I tend to think any theory is only understood when you have the next theory. […] Special relativity we know better because of general relativity, and we’ll probably know general relativity better when it’s put into a quantum theory of gravity. Same goes for quantum mechanics. If quantum mechanics is eventually subsumed into a more general theory, we’ll then know quantum mechanics. Then, of course, the mystery will move on to the new theory. ‘Spooky Action at a Distance‘ Author George Musser Talks Physics Loopholes. By Sarah Lewin;  https://www.space.com/31066-spooky-action-at-a-distance-book-interview.html, 10.11.2015.

[24]         Rémi Brague: Die Weisheit der Welt. Kosmos und Welterfahrung, München 2006, S. 241.

[25]         Potsdamer Neueste Nachrichten, 13.03.2013. http://www.pnn.de/campus/732850/

[26]         „If we take a closer look at this newest theory of physical cosmology on the coming into being of the universe from the so-called “nothing”, we will see that science has not committed such a fatal error. The term “nothing” used in the context of physical cosmology is only a verbal phrase standing for a physical entity, a pre-primeval cosmic vacuum, which is not at all “nothing”, but something. For whatever manifests physical behaviour determined by physical laws cannot be nothing; it must be a physical entity. Hence the recent theory in physical cosmology on the emergence of the universe from the so-called “nothing” is in reality a theory of the genesis of the primeval state of the standard paradigm from a more primeval state, which thus turns out to be pre-primeval only with respect to the primeval state of the standard paradigm. If the theory is correct, then the primeval state of the standard paradigm was preceded by a state which might be considered the cosmic equivalent of the finite quantum mechanical vacuum inside the present universe.” (László Székely: The Coming Into Being of the World in Archaic Myths and Modern Cosmology. Handschriftliche Aufzeichnung.)

[27]         Harald Fritzsch, a.a.O., S. 96.

[28]         A. Grünbaum: „The Pseudo-problem of the Creation in Physical Cosmology”, in: Philosophy of Science, Vol. 56, No. 3 (September) 1989, S. 373-394.

[29]         Székely László: „Mítosz és tudomány a modern kozmológiában”, in: Café Bábel, 1995/1-2.

[30]         Ernst P. Fischer: „Der Blick an den Himmel”, in: Fischer/Wiegand, a.a.O., S. 19.

[31]         Kathrin Passig/Aleks Scholz: „Schlamm und Brei und Bits. Warum es die Digitalisierung nicht gibt”, in: Merkur, 69 Jg. Nr. 798 (2015), S. 75.

[32]         Hubert Winkels: Leselust und Bildermacht. Über Literatur, Fernsehen und Neue Medien. Frankfurt/Main 1999. S. 187.

[33]         Jacob Taubes: Abendländische Eschatologie. Bern 1947, S. 13.

[34]         Michael D. Lemonick: The Georgian Star. How William and Caroline Herschel Revolutionized Our Understanding of the Cosmos. NewYork/London 2009. S. 29.

[35]         Rolf Dammann: Der Musikbegriff im deutschen Barock. Köln 1967, S. 34.

[36]         Johann Wilhelm Ritter: Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers (1810). Leipzig/Weimar 198, S. 358.

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