ÜBER GRENZEN UND AUSSICHTEN IM UNBEGRENZTEN — JOSEF A. TILLMANN

2020. június 13.

Mátyás Misetics

 

 

„Die Erkundung des Himmels ist die älteste Wissenschaft”[1], behauptet der Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer, zu Recht. Es ist anzunehmen, dass die Erkundung des Himmels am Lagerfeuer begann. Demnach zähmten wir – neueren Erkenntnissen zufolge – vor achthunderttausend Jahren die Flammen. Unsere Vorgänger betrachteten, wenn sie Glück hatten, jeden Tag, lebenslang das Feuer. Nicht nur das ruhige, auch das aufflackernde, funkenschlagende. Auffliegende Funken erscheinen vor dem Nachthimmel wie erglimmende Sterne, die aufgehen und erlöschen. Dieses Wechselspiel war das Dauerprogramm, die ständige Sendung einer Art von Ur-Fernsehen.

Doch das Betrachten des Feuers führt einen weiter: ins kosmische Licht. Die Astrophysik lehrt uns, dass der Ursprung beider derselbe ist. Allerdings verfügen wir intuitiv durch Kontemplation des Feuers eigentlich über dieses Wissen schon seit einer halben Ewigkeit.

Die Feuerstellen wurden gewechselt, wie auch die Konstellationen sich verändern. Mit der Zeit änderte sich nicht nur der Sternenhimmel, auch unsere Sichtweise auf die himmlischen Aussichten hat so manche Änderung erfahren. Nichts zeigt das eindeutiger, als der Wandel unserer Himmelsbetrachtung, die kosmisch gerichtete Kontemplation. Contemplatio – das war einst die Betrachtung eines quadratischen Ausschnittes des Himmelsgewölbes. Das Instrument, das dazu diente, hatten bereits etruskische Fachkräfte errichtet, und sie nannten es Templum. Dies ist auch der Ursprung unseres aus dem Lateinischen übermittelten Tempel-Wortes. Der innere Bezirk des Templums war heilig. Die Spezialisten kontemplierten in dem durch genau definiert Grenzen festgelegten ‘Visierraum’.

In der Antike gab es noch eine weitere methodisch praktizierte Himmelsbetrachtung, welche schon eher mit der heutigen Bedeutung der Kontemplation zusammenhängt. Sie wurde von Philosophen ausgeübt und war Teil der Ausbildung. So wurde in den Philosophenschulen techkné tou biou, Lebenskunst gelehrt. Die Exerzitien dienten nicht nur zum Erlernen der Gedankenführung; nicht weniger wichtig war die Einübung der Lebensführung. Betrachtungsweisen wurden einstudiert, wie auch Verhaltensweisen. Von Anfang an ging es besonders um die Ausbildung der Aufmerksamkeit. Dabei war eine Übung auch das Aufheben des inneren Gesichspunktes. So kam es zur Aufstieg der Seele. Erst in die Vogelperspektive, dann noch höher hinauf.[2]

Die antike Philosophie hat den Seelenflug nicht mit dem Traum des Fliegenkönnens verbunden, sondern vielmehr mit der Vorstellung der Fähigkeit des Denkens – das von der göttlichen Natur der Seele herrührt –, sich über Raum und Zeit zu erheben.[3] Der Flug bestand darin, die Menschen und die Dinge vom Blickpunkt der Universalnatur aus zu betrachten – und dies nicht nur mit Hilfe einer theoretischen Naturlehre, sondern hauptsächlich durch philosophische Übungen. „Insbesondere könnte man sagen” – so der Philosophiehistoriker Pierre Hadot –, „dass die Platoniker, Stoiker und Epikureer neben der theoretischen Physik zugleich eine praktische Physik erfunden haben, die sich als eine Übung der Phantasie begreift, welche die unendlichen Räume des Universums durcheilt.”[4]

Die Übungen waren wahre Kontemplationen, das Verinnerlichen des universellen Betrachtens, das Verweilen in Augenhöhe mit den Sternen und Göttern im Weltraum. Gleichzeitig hatte dies aber auch einen praktischen Zweck: „Die gelebte Physik des Universums” – schreibt Hadot weiter, „dient in allen Schulen dazu, die menschlichen Dinge verachten zu lernen und die innere Ruhe zu erlangen.”[5]

Heute betrachten selbst Astronomen nicht mehr den Himmel. Stattdessen werden wieder viereckige Visierfelder, Computermonitore, kontempliert. Mit Fernrohren sind nur noch Amateure bestückt; sonst ist diese Sorte von Wissenschaftlern vom Aussterben bedroht. „Man kann heute in Astronomie promovieren, mit Daten arbeiten, und trotzdem kein einziges Mal in den Himmel gesehen haben”, schreibt der Astronom Aleks Scholz, um dann resigniert festzustellen: „Die Ära der Himmelsbeobachter geht damit zu Ende.”[6]

Wandlungen der Deutungsmuster des Himmels

Der ungarische Allround-Künstler und Querdenker Miklós Erdély behauptete in einem Vortrag, dass „die siebziger Jahre die der kosmischen Hoffnungslosigkeit waren”.[7] Dies ist eine ernstzunehmende Behauptung, nicht zuletzt deshalb, weil seine Kenntnisse über den Stand der aktuellen Forschung der Astronomie und Theorien der Kosmologie umfassend waren. Er hatte außerordentlich empfindliche Antennen, und der Wissenstransfer auf diesem Gebiet funktionierte inmitten des damals real existierenden Sozialismus ziemlich gut. Seiner Meinung nach beschäftigen wir uns doch alle mit der Hoffnungslosigkeit, nur dass wir dies meistens verdrängen.

Nicht dass Miklós Erdély ein angeborener Pessimist gewesen wäre, im Gegenteil. Zwar hat er keine antike Philosophenschule besucht, aber er hatte einige Übung im Seelenflug – wie sich in dem folgenden aphoristischen Fragment zeigt: „Wenn du deine Augen auf zweierlei richtest, auf das immer Kleinere und das unüberschaubar Große, dann siehst du ein, daß du ein und dasselbe siehst, und dein alltäglicher Kummer verschwindet.”[8]

Die Epoche wurde nicht nur von Erdély als hoffnungslos charakterisiert. Auch die Kunsthistorikerin Eva Díaz stellte fest, dass „der kosmische Optimismus verschwunden ist, wenn nicht ganz beendet”.[9] Dazu gehört, dass den Jahren der kosmischen Hoffnungslosigkeit die Jahre der kosmischen Hoffnung vorausgingen. Die Menschen der 60er Jahre lebten in der Faszination eines verheißenen Landes: Diesmal war das Gelobte Land der Mond.

Die Nachwirkungen der raketentechnischen Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges hatten ihre Folgen: das erste Raumschiff (1957), dann der erste Mensch im Weltraum (1961). Beides waren sowjetische Errungenschaften, wie auch bald die Luna-Sonden, die auf dem Mond landeten. Chruschtschow, in dieser Zeit Parteichef der KPdSU, prahlte, dass sie „die ersten in der Welt sind, die eine Bahn von der Erde zum Mond in den Himmel brennen”.

Eine Bahn in den Himmel brennen – das klingt doch schön!

All dies hatte eine unbeschreibliche Wirkung, nicht nur in technischer, waffentechnischer und politischer Hinsicht, sondern gerade eben auch durch die Mobilmachung der kollektiven Phantasie.[10] So haben sich die Augen, die sich im Laufe jahrhundertelanger Modernisierung immer mehr auf die Erdenfläche gesenkt hatten, sich wieder gegen den Himmel erhoben. Nicht nur die kleine Schar der Astronomen spähte in den nächtlichen Himmel; durch den medialen Auftrieb wurde das Interesse an den himmlischen Ereignissen alltäglich. 1961 verkündete Kennedy das Programm der Mondlandung; als dessen Höhepunkt landete 1969 unser Vorposten auf dem Mond. Neil Armstrong hat diesen einen Schritt getan, der nicht nur der eines einzelnen Menschen war. Mit ihm kam gewissermaßen die ganze Menscheit..

Doch in dieser Dekade entfaltete sich nicht nur die gemeine Phantasie. Auch die künstlerische und wissenschaftliche Einbildungskraft erlebte ihre Blütezeit. In der Science-Fiction-Literatur entstanden in diesen Jahren die Hauptwerke von Isaac Asimov, Arthur C. Clarke und Stanislaw Lem. Auch in der Musik gab es eine kosmische Welle, angefangen vom Song of the Second Moon[11], über Interstellar Owerdrive von Pink Floyd bis zu Sun Ra, und nicht zuletzt Stockhausens Kontakte und ebenso die Stücke von Steve Reich.

In der Kunst dagegen war der Aufschwung etwas geringer, obwohl die Schriften von Buckmister Fuller beachtlich Resonanz erzielten. In der damals aufstrebenden Wissenschaft, der sogenannten Futurologie, gab es nur blasse Ergebnisse, umso mehr jedoch auf dem Gebiet der Grundlagenforschung, Astronomie und Kosmologie.

Mit der Mondlandung wurden so manche kosmischen Hoffnungen wahr. Andere wiederum sind spektakulär gescheitert. Doch das Ausmaß der darauffolgenden Ernüchterung ist heutzutage kaum noch zu spüren.[12] Der Gelobte Mond ist kein sehenswerter Ort. Es gibt dort keinen sanften Rasen, keinen weichen Strand, auch kein laues Wasser und kein grünes Laub, stattdessen Kälte und Leere. Doch Besseres als die lunaren Aussichten können auch die kosmischen Fernen nicht bieten. Ungeheure Kälte, durch Lichtjahrtausende führende Räume wechseln sich ab mit unvorstellbarer Hitze und Dichte. Kein sehr verlockendes Ziel für Weltraumreisende.[13]

So ist anzunehmen, dass esh Miklós Erdély wie einst Pascal vor diesen unendlichen Räumen schauderte.

 

Am Abend der Analogie

 

Jede dieser beiden Stimmen, die der Empfindung von Schaudern und von  Hoffnungslosigkeit, ertönen an einer Epochenwende: Pascal äußert es am Anbeginn der Modernität, am Anfang der analogen Deutung der Welt, Erdély spricht es am Abend der Analogie aus.

Analogie ist ana logos – Übereinstimmung, der Logik entsprechend. Die analoge Deutung der Welt ist vor einigen Jahrhunderten entstanden und war bis zur Verbreitung des Digitalcomputers vorherrschend. Früher wurden alle Dinge, Gegenstände und Phänomene der Welt anders gedeutet, sowohl in unserer als auch in anderen Kulturen.

Die analoge Betrachtungsweise führte – der verbreiteten Formulierung folgend – zur Entzauberung der Welt. Diese ist ein etwas übertriebener Befund, denn schon ein zauberhafter Abendhimmel lässt sich nicht bloß als kontingente Veränderung der Lichtbrechung in den verscheidenen Luftschichten deuten. Statt von Entzauberung sollte daher eher von einer Neutralisierung des Kosmos (Charles Taylor)[14] die Rede sein. Das trifft den Bedeutungswandel in den Jahrhunderten der Moderne besser. Heute ist das Weltall irgendetwas da draußen. Man hört darüber interessante Berichte, doch das Ganze berührt einen nicht mehr besonders.

Früher hatte man zum Himmel eine enge und unmittelbare Beziehung; er galt als Aufenthaltsort der Götter. In den biblischen Religionen ist er Teil des Sechstagewerkes und Erscheinungsort des Ewigen. Und noch für Isaac Newton war der Weltraum Sensorium Gottes. Von Entzauberung zu sprechen, ist ohnehin nicht zutreffend, denn nicht nur im ästhetischen Empfinden, sondern auch in der heutigen Physik findet man zauberhafte Phänomene. So beschreibt zum Beispiel George Musser, Redakteur des Scientific American, die Ereignisse der Fernwirkung: „Nichtlokalität ist wie Magie. Wie gesagt, das Nächstliegende zur Magie, was wir in der zeitgenössischen Wissenschaft haben: wenn etwas, was hier ist, sofort eine Wirkung anderswo, auf einem völlig verschiedenen Platz haben kann – vielleicht eben durch das Zimmer, durch das Universum.”[15]

Entzaubert sind die Geheimnisse des Weltalls allemal nich.; Im Gegenteil, viel eher vollzieht sich am Abend der Analogie eine Wende. Das All zeigt sich zunehmend geheimnissvoll und zauberhaft – in der Atomphysik wie in der Astrophysik. Denn diesen voneinander weit getrennten Forschungsgebiete haben einige gemeinsame Geheimnisse. Eines von ihnen ist die sogenannte Dunkle Materie.[16] Der Name täuscht, denn dunkel ist noch Teil der wahrnehmbaren Welt. Was aber „Dunkle Materie” genannt wird, ist nicht nur unsichtbar, sondern nicht detektierbar. Es lässt sich „mit keiner Wellenlänge nachweisen lässt”.[17]  Aus dieser n Materie sollen jedoch zwei Drittel des ganzen Universums bestehen. Sogar „meint man, dass 90 % der in Galaxien mit Spiralstruktur vorhandenen Materie unsichtbar ist”.[18]

Die Wissenschaft schreitet beständig voran. Es wird geforscht, das Wissen erweitert. Indes hat der Astophysiker Gerhart Börner zur Jahrtausendwende die Bilanz des Fortschritts gezogen: „In den letzten 25 Jahren haben wir also unser Nichtwissen vom kosmischen Substrat systematisch erweitert.” [19]

Mit dem Wissen nimmt das Nichtwissen zu. Und doch ist der wissenschftliche Fortschrittsoptimismus ungebrochen. Die systematische Erweiterung des Nichtwissens gründet in einer eigenartigen Dynamik, welche die ganze moderne Wissenschaft durchdringt. Die Verheißung wahrer Erkenntnis, die Beantwortung der unbeantworteten Fragen, wird fortwährend  in das Futurum verschoben.

 

Grenzen und Überschreitungen

 

Auf dem Grabstein von Sir William Herschel, einer der größten Astronomen, ist zu lesen, dass er „die Grenzen des Himmels durchbrach“. Er war es, der vor etwa zwei Jahrhunderten den Himmel gänzlich neu aufgerollt hat. Heute erfahren wir aus der wissenschftlichen Forschung fast jede Woche von neu entdeckten Galaxien, neuen Zwillingen der Erde, von neuen und immer größeren Schwarzen Löchern. Hinter den früher erahnten Grenzen des Himmels eröffnen sich immer neue Grenzen und mit ihnen wiederum neue Grenzenlosigkeiten. Bezeichnend hierfür ist ein Resümee des theoretischen Physikers Harald Fritzsch: „Wir haben jetzt die Grenze der heutigen Forschung erreicht. Noch sind viele Dinge unklar.”[20]

Anscheinend sind die Räume der Unklarheit und des Unwissens unendlich wie das Weltall selbst. „Das moderne Universum ist ein Naturreservat für das Unwissen”, so der Astronom Aleks Scholz, „hier darf es sich ungestört vermehren.”[21] Aber Scholz gehört mit seiner Skepsis und Selbstironie zu einer Minderheit unter den Wissenschaftlern. Die Mehrheit ist optimistisch, sogar verblendet von den Verheißungen der neuen Technologien. Manche vertreten völlig abgehobene Meinungen: „Die Physik ist ja inzwischen als exakte Wissenschaft in Bereiche vorgedrungen, die früher der Philosophie und Theologie vorbehalten waren. Und diese Grenze wird immer weiter verschoben.”[22] So der Physiker Hermann Nicolai. Demnach werden unsere avancierten Forscher bald die allerletzten philosophischen und theologischen Fragen beantworten. Fast wie einst der erste Kosmonaut, Jurij Gagarin, der behauptete, Gott während seines Raumfluges nicht begegnet zu sein.

Aber die Grenze dessen, worüber die Wissenschaft spricht, trennt nicht die Bereiche der Physik und der Metaphysik voneinander. Diese liegen nicht auf derselben Ebene. Sie können keine gemeinsame Grenze haben. Es ist nur die Erkenntnisgrenze, welche die Physik aufhält. Sie besteht nicht nur aus erkenntnistechnischen Hindernissen, sondern auch aus den aktuellen Paradigmen, den gängigen Theorien der Physik.

Die ständige Vertröstung auf die Zukunft hat George Musser im Innersten aufgewühlt: „Ich neige dazu zu denken”, sagte er, „daß eine Theorie nur dann verstanden wird, wenn man die nächste Theorie hat. […] Dann wird sich natürlich das Mysterium in die neue Theorie bewegen.”[23] Und so scheint es „als ob die Evolution der Vorstellungen über den Kosmos selbst wichtiger wäre als die Wahrheit über ihn”, wie Rémy Brague zur Moderne in seinem bedeutenden Buch Kosmos und Welterfahrung bemerkt. [24]

Tragfähige Erkenntnisse über die kosmische Evolution sind jedoch schwerlich zu finden. Vieles lässt an den gängigen Theorien zweifeln, auch an der Standard-Urknall-Theorie: „Je weiter wir jedoch zurückgehen, desto weniger verstehen wir”, bekannte  Hermann Nicolai, „und an einem bestimmten Punkt bricht unsere Beschreibung vollständig zusammen.”[25] Doch gelten kosmische Ursprungs-Theorien, vor allem über das Entstehen des Universums aus dem Nichts (genannt Vakuumfluktuation), nicht nur unter Laien, sondern auch unter Kosmologen und Astrophysikern als unbestreitbare Deutungen des Weltwerdens.[26] In der Darstellung Harald Fritzschs heißt es: „Beim Übergang vom symmetrischen Vakuum zum unsymmetrischen, der nach den Vorstellungen der Experten kurz nach dem Urknall geschehen sein muß, wurde eine gewaltige Energie freigesetzt, die ‘Schmelzwärme’ des Vakuums. Die Kosmologen vermuten, daß bei diesem Umwandlungsprozeß die heute vorliegende Materie entstanden ist. […] Sollte es sich erweisen, daß diese Idee, die inzwischen von vielen auf dem Gebiet der Kosmologie tätigen Physikern verfolgt wird, richtig ist, dann wären wir selbst, genauer die Materie, aus der wir bestehen, das Produkt des Vakuums.”[27]

Offenkundig gründet diese hauptsächlich von Steven Hawking entwickelte Theorie auf logischen Fehlschlüssen. (In seine Berechnungen führt er den Begriff einer imaginären Zeit ein, behandelt sie jedoch später als reale Zeit …[28]) Aber auch in ihrer Struktur haben diese Kosmologien eine große Ähnlichkeit mit den archaischen Kosmogonien, den Weltenstehungs-Mythen. [29]

 

Nach der kosmischen Hoffnungslosigkeit

 

Vor dem breiten Horizont der universalen Erkenntnisgrenzen gibt es aber auch gute Nachrichten. Durch die Digitalisierung wurde die Entwicklung der Speicherung und der Kodierung forciert. Seit der Jahrtausendwende laufen die Rechner nicht nur auf Siliziumbasis. Für die Speicherung werden immer neue Elemente verwendet, auch auf organischer Basis. Jedwede Materie scheint geeignet zu sein, nicht-analoge Informationen zu speichern: Steine und Kristalle, Mineralien, tote und lebendige Gegenstände. Als ich vor mehreren Jahren die Entwicklung dieses digitalen Universums verfolgte, kam mir der Gedanke, dass der Kosmos nicht nur analoge, sondern auch anders verschlüsselte Kodierungen haben könne, solche, die wir bisher nicht nur nicht zu entschlüsseln, sondern überhaupt anzunehmen unfähig waren.

Auch ist da die Ahnung, das wir uns in einer Zeit der Wende befinden, die weit mehr ist als ein Paradigmenwechsel und vielleicht nur mit der kopernikanischen Revolution zu vergleichen ist. Denn die kopernikanische Wende führte nicht nur zu einem neuen, heliozentrischen Weltbild. Ihre entscheidende Konsequenz bestand in der „Spaltung zwischen der sinnlichen und der begrifflichen Erkenntnis, zwischen der Welt der Erscheinungen und der Welt der Theorien, zwischen dem ästhetischen und rationalen Zugang zur Wirklichkeit”. [30]

Für uns, die wir in einer mehrfach gespaltenen kopernikanischen Welt geboren sind, zeigen sich heute neue kosmische Perspektiven und die Vorstellung von einem anders gemusterten Universum. Neulich erfuhr ich, dass John Archibald Wheeler, einer der bedeutensten theoretischen Physiker, schon früher auf ähnliche Gedanken gekommen ist. Er formulierte bereits 1990 seine  „It from Bit”-Doktrin. „’It from Bit’ bedeutet, dass die Welt ultimativ auf digitalen Informationen beruht. Das Universum als gigantischer Computer, eine Idee, die heute unter theoretischen Physikern recht beliebt ist.”[31]

Der Umgang mit dem Sinnbild des Computers ist ganz allgemein mit Skepsis zu betrachten. Unser Gehirn wird oft mit einem Rechner verglichen, doch ist diese Metapher nach Ergebnissen der Hirnforschung offenbar unangemessen. Wir sind anders vernetzt, von Unterschieden der Komplexität und der Hardware ganz zu schweigen. Hingegen scheint eine nicht-analoge Betrachtung des Universums fruchtbar zu sein. Sie regt dazu an, den Kosmos auch als Informationsspeicher und als Medium zu verstehen.

Diese Idee ist auch von der Medientheorie aufgegriffen worden: „Wenn Medien materielle Konfigurationen sind, die Informationen speichern, bearbeiten und übertragen, dann kann jedes Element dieser Welt Teil einer medialen Konfiguration sein oder werden; vom Sandkorn in der Wüste bis zur chinesischen Mauer; von der menschlichen Körperzelle bis zum Brillenscharnier. Der Blick auf diesen grundsätzlichen und simplen Sachverhalt wird stetig dadurch getrübt, daß Medien von der Kommunikation als einem menschlichen Sinngebungsprozeß her gedacht werden.” [32]

Wenn man also Medien universal und nicht nur als Prozess der menschlichen Sinngebung auffasst, dann stellt sich die Frage des absoluten Gedächtnisses, auch in der Form, wie sie der jüdische Religionsphilosoph Jacob Taubes formuliert hat: „Gott ist das absolute Gedächtnis; und für ihn gibt es kein Vergessen.”[33] Das All eignet sich offenbar als Gedächtnisträger, als absoluter Speicher. Taubes behauptet dies nicht ohne Grund; in der Heiligen Schrift finden sich diesbezügliche Hinweise, sowohl im Alten als auch im Neuen Testament. Es sei hier nur eine Stelle erwähnt: „Gott vermag aus diesen Steinen Kinder zu erwecken.” (Matthäus 3, 9) Sogar aus Silizium.

Fortan sollten wir also den Kosmos auf zweifache Weise betrachten: Während wir unseren Augen glauben, müssen wir zugleich zweifeln. Beim Kontemplieren der unfassbaren und erhabenen Schönheit des Sternenhimmels sollten wir zugleich an unserem analogen Wahrnehmen und Denken zweifeln. In dieser schwierigen Lage können wir uns an die Kunst wenden. Genauer gesagt, an jene Kunst, die lange Zeit als Kunst der Künste galt: an die Musik. Musik hat seit jeher ein inniges Verhälniss zum Kosmos unterhalten; seitPythagoras ist uns die Idee vertraut, dass der ganze Himmel Harmonie und Zahl ist. Diese innige Beziehung zwischen Musik und Kosmos inkorporiert sich manchmal in einer ebenso musikalisch wie wissenschaftlich begabten Person.  So in der Person Sir William Herschel,s der nicht nur einer der besten Astronomen aller Zeiten war, sondern auch ein talentierter und anerkannter Musiker: Komponist, Dirigent, Oboist, Organist, Solist und Konzertmeister.[34]  Er lebte in einer günstigen Zeit, als Musik und Astronomie wie auch Kosmologie und Musiktheorie noch ineinandergreifen konnten und – dank der überlieferten neupythagoreischen Spekulationen – „die Musik harmonisch begründet und mit dem Makrokosmos (= Natur) im Gleichklang” war.[35]

Ein deutscher Zeitgenosse Herschels, der Physiker und Philosoph Johann Wilhelm Ritter, hat dieses Verhältnis unübertrefflich in Worte gefasst: „Der Gehörsinn ist unter allen Sinnen des Universums der höchste, größte, umfassendste, ja es ist der einzige allgemeine, der universelle Sinn. Es gilt keine Ansicht des Universums ganz und unbedingt, als die akustische.”[36]

•••

Erschienen: TUMULT 2020 / Sommer, S. 50-56.

Copyright :Josef A. Tillmann

•••

[1]          Ernst P. Fischer: Der Blick an den Himmel , in Mensch und Kosmos. Unser Bild des Universums (Hg. Ernst P. Fischer und Klaus Wiegand), Fischer, Frankfurt, 2004. S. 21.

[2]          „Wir finden in allen Philosophieschulen dieselbe Vorstellung von der philosophischen Art, die Dinge zu sehen, wieder: den Flug im Kosmos und den Blick von oben.” Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Berlin 1991. S. 128.

[3]          Ebenda.

[4]          Ebenda.

[5]          Ebenda.

[6]          Aleks Scholz: „Lichtjahre später”. Kolumne auf CulturMag, 19.12.2012 http://culturmag.de/category/rubriken/lichtjahre-spaeter

[7]          Erdély Miklós: „Előadás a kiállításról”, in: Erdély Miklós: Művészeti írások. Budapest,1991.

[8]          Mondolat: Acta Historiae Artium (übersetzt von Hannelore Schmör-Weichenhain), Tomus 39., 1997. p. 215.; http://arthist.elte.hu/Tanarok/SzoekeA/fulltexts/ACTA/ACTA_elemei/page0001.htm

[9]          „They register an elegiac sense that the era of space exploration as a program of knowledge acquisition, interspecies communication, and even intergalactic colonization—in short, the epoch of cosmic optimism—has receded if not ended.” (Eva Díaz: „We Are All Aliens”, in: Journal #91, May 2018)

https://www.e-flux.com/journal/91/197883/we-are-all-aliens/, 10.06.2018.

[10]              Oriana Fallaci: Wenn die Sonne stirbt. Düsseldorf 1966.

[11]         Tom Dissevelt & Kid Baltan: Song of The Second Moon, 1959.

[12]         Verglichen mit den damaligen Erwartungen ist es aber riesig. Wie man aus dem Reportagenbuch der Oriana Fallaci erfahren kann, hatten die Entwickler und Teilnehmer des Apollo-Programs ganz konkrete Vortellungen darüber, wie sie in einigen Jahren die Wochenenden auf dem Mond, den Sommerurlaub auf der Venus oder auf dem Mars verbringen würden. Zu der Zeit, als der Mensch zum erstenmal den Mond betrat, erklärte z.B. Wernher von Braun, übrigens kein Phantast, eher ein Pragmatiker, der früher ein Hauptkonstrukteur der nationalsozialistischen Raketentechnik (V1, V2) war, später “Vater” der amerikanischen Raumfahrt: “In Zukunft wird es genauso nützlich sein, den Weltraum kennenzulernen, wie Autofahren zu lernen.”

[13]         „Im Gegensatz zu den Reisenden auf dem Erdball haben die Reisenden im Weltraum gar keine Chance, wirkliches Neuland zu erreichen. Kosmonauten und Astronauten sind sich darüber im Klaren und enstprechend nüchtern. Es ist ihnen bewusst, dass sie nicht als Entdecker, sondern bloss als Beobachter unterwegs sind.” (Aleks Scholz, a.a.O.)

[14]         Charles Taylor: Sources of the Self. The Making of the Moder Identity. Cambridge 1989. S. 148.

[15]         „Nonlocality is like magic. As hasbeen said, it’s the closest thing we have to magic in contemporary science: when something here, in one place, can affect something there, in a totally different place — maybe even across the room, across the universe — instantly.(Sarah Lewin: „ ‘Spooky Action at a Distance’. Author George Musser Talks Physics Loopholes.”) https://www.space.com/31066-spooky-action-at-a-distance-book-interview.html. 10.11.2015.

[16]         „Dunkle Materie ist eine postulierte Form von Materie, die nicht direkt sichtbar ist, aber über die Gravitation wechselwirkt. Ihre Existenz wird postuliert, weil im Standardmodell der Kosmologie nur so die Bewegung der sichtbaren Materie erklärt werden kann.” Wikipedia, Stichwort „Dunkle Materie”, 10.06.2018.

[17]         Gerhart Börner: „Der Blick an den Himmel, in: Ernst P. Fischer/Klaus Wiegand (Hg.): Mensch und Kosmos. Unser Bild des Universums. Frankfurt/Main 2004. S. 51.

[18]         Ebenda.

[19]         Ebenda.

[20]         Harald Fritzsch: Die verbogene Raum-Zeit. Newton, Einstein und die Gravitation. München/Zürich 2000, S. 361.

[21]         Aleks Scholz, a.a.O.

[22]         Der Tagesspiegel, 29.12.2017. http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/sonntag/astrophysiker-nicolai-ueber-den-anfang-des-universums-wir-sind-so-unvorstellbar-unbedeutend/20786072-all.html

 

 

[23]         I’m projecting into the future on this, which is always a perilous thing to do, but I think [it will involve] both. I think some deep thinking has to be done here, but clearly, after 80-some-odd years of thinking, and disagreements are still quite live, I don’t think that will be enough. I tend to think any theory is only understood when you have the next theory. […] Special relativity we know better because of general relativity, and we’ll probably know general relativity better when it’s put into a quantum theory of gravity. Same goes for quantum mechanics. If quantum mechanics is eventually subsumed into a more general theory, we’ll then know quantum mechanics. Then, of course, the mystery will move on to the new theory. ‘Spooky Action at a Distance‘ Author George Musser Talks Physics Loopholes. By Sarah Lewin;  https://www.space.com/31066-spooky-action-at-a-distance-book-interview.html, 10.11.2015.

[24]         Rémi Brague: Die Weisheit der Welt. Kosmos und Welterfahrung, München 2006, S. 241.

[25]         Potsdamer Neueste Nachrichten, 13.03.2013. http://www.pnn.de/campus/732850/

[26]         „If we take a closer look at this newest theory of physical cosmology on the coming into being of the universe from the so-called “nothing”, we will see that science has not committed such a fatal error. The term “nothing” used in the context of physical cosmology is only a verbal phrase standing for a physical entity, a pre-primeval cosmic vacuum, which is not at all “nothing”, but something. For whatever manifests physical behaviour determined by physical laws cannot be nothing; it must be a physical entity. Hence the recent theory in physical cosmology on the emergence of the universe from the so-called “nothing” is in reality a theory of the genesis of the primeval state of the standard paradigm from a more primeval state, which thus turns out to be pre-primeval only with respect to the primeval state of the standard paradigm. If the theory is correct, then the primeval state of the standard paradigm was preceded by a state which might be considered the cosmic equivalent of the finite quantum mechanical vacuum inside the present universe.” (László Székely: The Coming Into Being of the World in Archaic Myths and Modern Cosmology. Handschriftliche Aufzeichnung.)

[27]         Harald Fritzsch, a.a.O., S. 96.

[28]         A. Grünbaum: „The Pseudo-problem of the Creation in Physical Cosmology”, in: Philosophy of Science, Vol. 56, No. 3 (September) 1989, S. 373-394.

[29]         Székely László: „Mítosz és tudomány a modern kozmológiában”, in: Café Bábel, 1995/1-2.

[30]         Ernst P. Fischer: „Der Blick an den Himmel”, in: Fischer/Wiegand, a.a.O., S. 19.

[31]         Kathrin Passig/Aleks Scholz: „Schlamm und Brei und Bits. Warum es die Digitalisierung nicht gibt”, in: Merkur, 69 Jg. Nr. 798 (2015), S. 75.

[32]         Hubert Winkels: Leselust und Bildermacht. Über Literatur, Fernsehen und Neue Medien. Frankfurt/Main 1999. S. 187.

[33]         Jacob Taubes: Abendländische Eschatologie. Bern 1947, S. 13.

[34]         Michael D. Lemonick: The Georgian Star. How William and Caroline Herschel Revolutionized Our Understanding of the Cosmos. NewYork/London 2009. S. 29.

[35]         Rolf Dammann: Der Musikbegriff im deutschen Barock. Köln 1967, S. 34.

[36]         Johann Wilhelm Ritter: Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers (1810). Leipzig/Weimar 198, S. 358.

Der tanzende Sokrates und die tanzenden Zigeuner. Über Attila Kotányi ••••• J. A Tillmann

2019. július 26.

 

Obschon das Bild der tanzenden Zigeuner viel weniger der Erklärung bedarf als die Figur des tanzenden Sokrates, möchte ich doch mit Ersterem beginnen. Attila Kotányi sprach nämlich nicht vom Tanz der Zigeuner im Allgemeinen, sondern in einem konkreteren Sinne – von zeltenden Zigeunern; dies waren jene Zigeuner, denen er täglich begegnete, als er zu Beginn der 1940er Jahre, zur Zeit seines Studiums an der Technischen Universität, am Rand von Budapest wohnte. Ich habe öfter gehört, wie er erzählte (denn jeden wirklich wichtigen Gedanken und jede bedeutende Erfahrung erzählte er immer wieder aufs Neue), dass die auf der Wiese zeltenden Zigeuner jeden Abend tanzten. Interessant war natürlich nicht in erster Linie diese Tatsache, sondern vielmehr etwas, das er hinzufügte: Er sagte, sie müssten deshalb Tag für Tag tanzen, um die Bitterkeit, die sich den Tag über aufgestaut habe, aus sich herauszutanzen und herauszusingen. Denn darüber verfügten sie reichlich, so wie es ihren heutigen Nachkommen auch nicht daran mangelt. Selbstverständlich handelt es sich hierbei nicht um das Erlebnis einer einzelnen Ethnie, sondern vielmehr um eine allgemeine menschliche Erfahrung – doch sind die Unterschiede hinsichtlich der Proportionen selbstverständlich nicht zu vernachlässigen.

Attila Kotányi erging sich schließlich nicht in der Analyse der Wirkung des Tanzes, des Gesanges oder der Musik, sondern wechselte – wie häufig in Gesprächen – zu einem anderen Thema über. So versuche ich mich nun selbst an der Deutung seiner Bemerkung.

Die tanzenden Zigeuner singen und tanzen die Bitterkeit aus sich heraus. Wie ist das möglich? So überraschend es beim ersten Hören erscheinen mag, das Phänomen ist bei weitem nicht einzigartig. Ganz im Gegenteil! Die ältesten Quellen zu Tanz und Musik, biblische und griechische Texte berichten gleichermaßen davon, dass die Betrübnis, der Schmerz, ja sogar die Trauer in Tanz münden, sich die Stimmung dabei wendet, zu einem Gefühl mit umgekehrtem Vorzeichen, zur Freude wird.

So heißt es in Psalm 30 „Du wandeltest meinen Trauergang mir zum Reigen“. Von Jeremia erfahren wir auch, dass am Tanz unabhängig vom jeweiligen Alter „Jünglinge und Alte“ teilnehmen: „wieder schmückst du mit Pauken dich / und fährst aus in der Spielenden Reigen […] / Dann freut die Maid sich im Reigen, / Jünglinge und Alte zumal: / ich wandle ihnen ihre Trauer in Wonne, / ich tröste sie, / nach ihrem Gram erfreue ich sie.“ (31. 4; 13. Übersetzung Buber- Rosenzweig)

Die griechischen Quellen berichten nicht nur von der Erfahrung einer derartigen Wirkung von Musik und Tanz und den diesbezüglichen Einsichten, sondern auch von deren „lebenstechnischer“ Anwendung: Pythagoras wies – nach seinem Biografen Iamblichos[1] – „der Erziehung durch die Musik die erste Stelle zu, der Erziehung durch bestimmte Weisen und Rhythmen, die auf die Wesensart und die Affekte des Menschen heilend wirkten. Die Seelenkräfte wurden dabei wieder in ihr ursprüngliches harmonisches Gleichgewicht gebracht. So erdachte er verschiedene Mittel, leibliche und seelische Erkrankungen einzudämmen und zu heilen.”

Für seine Gefährten „stellte er sinnvoll die sogenannten Zurüstungs- und Zurechtweisungsmusiken zusammen, indem er mit dem Geschick eines Daimons Mischungen kreierte, durch die er die Affekte der Seele leicht umkehren und ins Gegenteil verwandeln konnte, solange diese in den Menschen noch ganz unbewusst entstanden und heraufwuchsen: Regungen des Schmerzes, des Zorns, des Jammers, sinnloser Eifersucht und Furcht, Begierden aller Art, Gemütswallungen, Bestrebungen, Hochgefühle, Depressionen und Wutausbrüche; jede dieser Regungen brachte er im Sinne der Tugend zurecht durch die passenden musikalischen Weisen, wie durch heilsam gemischte Arzneien.”

Die musikalisch-philosophische Lebenstechnik war tägliche Praxis: „Es heißt, er habe seine Gefährten, wenn sie sich zur nächtlichen Ruhe begaben, von den Verwirrungen des Tages und den inneren Geräuschen befreit, ihre angegriffene Denkfähigkeit gereinigt und damit erreicht, dass sie ruhig und friedlich schlafen konnten.“

Iamblichos berichtet auch, es habe „bestimmte Melodien gegeben, die gegen die Gemütswallungen geschaffen wurden, so gegen die Niedergeschlagenheit und gegen all das, was die Seele quälte, – diese hielt man für eine äußerst wirkungsvolle Hilfe –, es habe auch andere gegeben, gegen Zorn, Wutausbrüche und allerlei Veränderungen der Seele in einem solchen Zustand, doch habe man auch eine eigene Art der Melodie gegen die Begierden erfunden. Auch den Tanz habe man verwendet.“

In der späteren antiken Philosophie finden Musik und Tanz nicht in einer derart zentralen Rolle Erwähnung. Eine Ausnahme stellt Sokrates dar, mit dem die Figur des tanzenden Philosophen erscheint. Der tanzende Philosoph ist keine Metapher; wenn der Bericht seines Schülers nicht erhalten geblieben wäre, in dem erwähnt wird, dass Sokrates tanzte, hätten wir trotz allem guten Grund zu der Annahme, dass er als Athener in jungen Jahren ebenso an den Festen der Polis teilnahm, somit auch an den Tänzen, wie er sich [gleichsam] als Soldat an der Verteidigung der Polis beteiligte, als diese Krieg führte. Doch in dem Werk Das Gastmahl seines Schülers Xenophon legt der betagte Sokrates nicht nur seine Gedanken – im Zusammenhang mit dem herausragenden Auftritt der Tänzer als Teil des Symposions – dar, sondern teilt auch mit: „Tanzen werd’ ich, bei Gott!”, weiterhin sagt er „Wißt ihr nicht, daß mich neulich dieser unser Charmides frühmorgens beim Tanzen überraschte?“

Über seine Affinität zum Tanz gibt der Text auch eine gewisse Erklärung: „Lacht ihr mich aus? Darum wohl, weil ich durch diese  Leibesübung gesünder werden oder weil ich mit mehr Appetit essen und süßer schlafen möchte? […] Oder lacht ihr darum, weil es mir zum Üben keinen Partner zu suchen und als einem alten Mann mich nicht im Gedränge auszuziehen nötig wird…“ (2.15-19; Übersetzung K. Kerényi [2])

Diese speziell funktionale, schon beinahe fitnessartige Auffassung des Tanzes ist nicht unbedingt Sokrates zuzuschreiben; wir haben guten Grund zu der Annahme, dass sie vielmehr für seinen Schüler charakteristisch war. Karl Kerényi merkt in seinem Aufsatz zum griechischen Tanz an: „Es ist der Athener Xenophon, der am wenigsten philosophische, am meisten einer spartanisch-soldatischen Lebensführung zugewandte Schüler Sokrates’, der in seinem Gastmahl den Meister über den Tanz lehren läßt. Die Einreihung des Tanzes zu den Leibesübungen geht sicherlich auf Xenophons Rechnung.”[3]

Der Unterschied zwischen dem Tanz und der soeben beschriebenen Modalität der Leibesübung ist keineswegs zu vernachlässigen. Die Abweichung ist wesentlich. Zudem kann die Ergründung des Unterschiedes zwischen Tanz und anderen dynamischen Bewegungsformen auch auf jene Frage eine Antwort geben, ob der Tanz des Philosophen wohl etwas mit dem Tanz der Zigeuner gemein hat.

In Xenophons Text besitzt Sokrates’ Tanz, seine Interpretation des Tanzes, einige beachtenswerte Eigenarten, insbesondere der frühe Zeitpunkt, sein Charakter mangels Partner und Musik. Im Zusammenhang mit dem Tanz am frühen Morgen fiel mir Attila Kotányis Spruch dazu ein, was für Tage ein Philosoph habe, woran sich seine Freunde unterschiedlich erinnern. Nach der einen Version habe er gesagt „Ein Philosoph hat nur gute Tage”, nach einer anderen gerade das Gegenteil – was er jedoch ironisch verstanden habe. Wenn der Tag des Philosophen aber doch keinen guten Anfang nimmt, wenn er nun einmal mit dem linken Fuß aufgestanden ist, dann könnte er dem Beispiel Sokrates’ entsprechend auch dann zum Guten gewendet, umgestaltet, umgestimmt werden – er müsste nur tanzen…

In diesem Fall findet der Tanz selbstverständlich ohne einen Partner statt. Obschon es auch möglich ist, dass der Tänzer – zumindest in seiner Erinnerung – mit einer philosophischen Schule tanzte. Natürlich mit der Schule, in der man den Tanz auch gegen die Niedergeschlagenheit und gegen all das, was die Seele quälte, anwandte.

Die Beziehung Sokrates’ zum Tanz, zu der Bewegung größter Dynamik, ist ohnegleichen. Ebenso einzigartig ist seine über die größte Dynamik verfügende philosophische Geste, die Umkehrung; Sokrates ist der Meister der Umkehrung des (geglaubten) Wissens in Unwissenheit, des Nicht-Wissens in Wissen, des schwächeren Logos in einen stärkeren Logos.[4]

Der Umkehrung in der Philosophie entspricht im Fall der Musik, des Gesangs und des Tanzes die Umstimmung. In Gesang und Musik – sowie im Tanz – bedeutet Umstimmung nicht die Veränderung von Instrument und Tonfolge, sondern die Umgestaltung der Schwingungen, der Regungen der Seele im weitesten Sinne. Die Veränderung der Interferenzen von Körper und Seele und Geist, die sich durch das Zusammenschwingen wandelnde Konfiguration.

 

Die natürliche Stimme des Menschen

 

Die eigenste Äußerungsform des Menschen ist seine Stimme. Der Mensch gibt selbstverständlich unterschiedliche Töne von sich. Einen Ton gibt er auch dann von sich, wenn man ihn schlägt, sagte Attila Kotányi in seinem Vortrag in Plasy: „Es geht dann so weiter, dass wir Klangkörper geschlagen werden, wir geben dann Töne von uns […]“[5]

Aber die Menschen geben nicht nur Töne von sich, wenn man sie schlägt, sondern auch, wenn sie den „Schlag” indirekter erfahren, wenn sie ein Schicksalsschlag ereilt.

Mein einstiger Professor Péter Balassa zitierte häufig einen Satz aus einem Brief Gustave Flauberts: „meine natürliche Stimme ist der metaphysische Schrei“. Ich bin der Ansicht, dass die Frage der natürlichen Stimme eine einfachere und natürlichere Herangehensweise erfordert. Ich meine, dass meine natürliche Stimme der Schrei ist, unser aller natürliche Stimme ist das, ein einfacher Schmerzensschrei.

Darin steckt – im Vergleich zu Flauberts Behauptung – keinerlei kulturkritische Spitze, kein pathologischer Charakter, nur die Tatsache, dass wir vor allem zum Schreien in der Lage sind. Am offensichtlichsten ist dies beim Weinen, der ersten Äußerung jedes Menschenkindes nach der Geburt. (Auf ein pathologisches Phänomen weist eher hin, wenn es nicht aufweint!)

Dieser natürliche Ton, das Urwort klingt in jeder Sprache gleich und ist gleich zu verstehen. Davon behauptet der Psychologe Géza Révész: „Die Urmenschen haben sicherlich verschiedene, ihren verschiedenen Zwecken gemässe Ruflaute ertönen lassen. Ein Ruf galt als Zeichen der Anwesenheit, ein anderer der Warnung vor Gefahr, ein dritter als Hilferuf.”[6]

In seiner Einführung in die Musikpsychologie hat Révész die Frage aufgeworfen, „ob es nicht möglich ist, das Prinzip des Sprachursprungs auch im Hinblick auf den Ursprung der Musik anzuwenden und so Musik und Sprache auf eine gemeinsame Urform zurückzuführen. Meine Überlegungen haben mich zu dem Ergebnis geführt, dass die Musik in ihrem Ursprung sehr eng mit einer der menschlichen Kontaktformen zusammenhängt, die den oder mindestens einen der entscheidenden Ausgangspunkte der Musik darstellt. Diese Kontaktform, die dem Sprachgesang nahesteht, mit ihm vielfach verbunden auftritt, ohne mit ihm zusammenzufallen, ist der Ruf resp. der Zuruf.” [7]

Aus ähnlichen Einsichten formulierte der Philosoph Ferdinand Ebner seinen Aufsatz über Das Urwort: „So muß dieses Urwort ein Satz gewesen sein, ein Satz in der ‚ersten Person’ – aus einem Wehschrei hervorgegangen. Der Mensch wird noch immer mit einem Wehschrei geboren und ein Wehschrei war auch sein erstes Wort nach seinem Abfall von Gott. […] Das im Schmerz aufschreiende Wesen, sein Leben direkt oder indirekt bedroht fühlend, gibt gerade durch seinen Aufschrei […] ein ‚Lebenszeichen’ von sich.

Das Urwort der Sprache war ein Satz in der ‚ersten Person’. Am Anfang der Sprache […] stand das aus einem Wehschrei hervorgegangene Ich. […] Dieses Ich, dem es aus dem Wehschrei zum Wort wurde und in diesem seine eigene Existenz behauptete und zur Aussprache brachte, sprach, freilich nicht in ruhiger Erkenntnis, sondern leidenschaftlicher Erregtheit: Ich bin und leide. Das war der Sinn des Urwortes.” [8]

Dieser Ton ist deshalb natürlich, da er mit der Geburt auf die Welt kommt und das gesamte Leben über bleibt. Er ist eine anthropologische Gegebenheit. Der Hirnforschung nach entstehen die neuronalen Netze im Laufe der Geburt, die beim Zur-Welt-kommen erlebten Schmerzempfindungen schaffen das neue Verknüpfungssystem der Nervenbahnen, die später auch die Vermittlung anderer Impulse versehen: „Die Schmerzneuronenmatrix des Gehirns hat durch die Geburtserfahrung sicherlich entscheidende Prägungen bekommen.” schreibt der Hirnforscher Detlef B. Linke. „Die Hirnforschung hat gezeigt, auf welche Weise der Schmerz und der Sinn eine Sonderrolle einnehmen. Anders als die anderen Sinnessysteme weisen die Schmerzfasern eine außerordentlich diffuse Projektion auf und verbreiten sich über einen viel größeren Teil des Gehirns, als das bei anderen Sinnessystemen der Fall ist.” [9]

Diese Gegebenheit bedeutet zugleich auch eine Möglichkeit: „Die Matrizen, die aus den Schmerzverarbeitung übernehmenden Neuronen im Gehirn bestehen, sind nun für vielfältige phänomenologische Ausdeutungen offen: Die zahlreichen Verknüpfungen der Schmerzneuronen gestatten auch eine Mannigfaltigkeit von Ausdeutungen des Schmerzes.” [10]

Das bedeutendste Beispiel für die Mannigfaltigkeit der Ausdeutungen des Schmerzes ist die „natürliche“ Stimme des Menschen, das aus dem Wehschrei, der Klage entspringende Lied, das sich im Verlauf des Heraussingens wandelt, sich in Freude umkehrt, ja sogar zur Stimme des Jubels wird. In verschiedenen archaischen oder kultisch-liturgischen Liedern ist dies deutlich erkennbar; im Dhrupad-Gesang, in der hebräischen Kantillation, der christlichen Liturgie usw.

Dies ergibt sich aus dem gesanglichen Charakter des Schreies, wie es Wissenschaftler und Sänger auch behaupten: Nach Révész liegt es „in der Natur der Rufe, dass sie eine gewisse Stärke und Fülle besitzen. Diese Stärke und Fülle sind einzig durch die Gesangstimme […] zu erreichen. ”[11] Über diese Erfahrung berichtet auch die Sängerin Margriet de Moor: „Wie jedem Sänger ist mir irgendwann aufgefallen, daß die Stellung des Kehlkopfes, des Gaumens, der Zunge und des Halses beim Singen genauso ist wie beim Schrei, der Klage oder dem Ruf. Bedeutsam dabei ist, daß Singen eine Modulation ist und vor allem – durch die Atemtechnik – die Verlängerung eines Phänomens, das von Natur aus nur von kurzer Dauer ist.”[12]

„Wegen dieser psychobiologischen Verwandschaft – so Révész – geht der Ruf ohne irgendein Zwischenstadium in den Gesang über. [13] Es zeigt sich auch, „dass der Ruf eine bestimmte musikalische Struktur besitzt. Dies beruht einerseits darauf, dass jeder Ruf mindestens aus zwei voneinander verschiedenen Tönen besteht, die in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen, anderseits auf der schleifenden Tonbewegung am Ende und vielfach auch am Anfang des Signals, die zweifellos zu dem musikalischen Charakter des Rufes beiträgt. […] Der Umstand, dass diese schleifende Bewegung in den Gesängen der Naturvölker sehr häufig vorkommt, obgleich sie ihre ursprüngliche Ruffunktion bereits eingebüsst hat, weist auf eine Beziehung zwischen Ruf und Gesang [hin].”[14]

Doch erscheint diese Erfahrung auch in der archaischen griechischen Musikauffassung, in der „die Aulosweise als musikalische Darstellung der Wehklage beschrieben wird“[15]. Nach dem Werk Musik und Rhythmus bei den Griechen von Thrasybulos Georgiades kann die Aulosweise, der Klang dieses flötenähnlichen Instrumentes, als die Darstellung „des Ausdrucks, des Schreies, der Wehklage“ aufgefasst werden. Als ein literarisches Beispiel dafür beruft er sich auf eine Ode Pindars, in der die mythische Ursprungsgeschichte des Aulos zu lesen ist: „bildete sie [die Jungfrau] die Auloi volltönenden Gesang, / lieben Mann, / damit er mit diesem Werkzeug nachahmen könnte die lauttönende / Klage, / die aus Euryales behenden Kiefern quoll”.[16]

Georgiades schreibt auch, dass die „Wehklage […] in Kunst [téchne], in Können, in Aulosspiel, in Musik verwandelt“ wurde.[17] Wie ich beobachtet habe, geht diese Wendung in vielen Liedern der Zigeuner beziehungsweise in ihrer Musik mit beinahe exakter Genauigkeit vonstatten: Zahlreiche langsam, schmerzvoll beginnende Melodien werden um die dreissigste Sekunde herum mit einer plötzlichen Wendung ekstatisch. Ähnliches geschieht auch in vielen indischen oder pakistanischen Gesangs- und Musikstücken.

Die allgemeine innere Erfahrung des aus Schmerz entspringenden und zu Freude werdenden Liedes kann wohl kaum kompakter ausgedrückt werden, als es eine „Quelleninformantin” getan hat, als sie sagte: „Von Trauer gebracht, von Freude getragen.” (Der ungarische Ethnomusikologe András Berecz, der dies aufzeichnete, war wohl selbst dieser Ansicht, da er seinem Buch diesen Titel[18] gab.)

Der Schrei ist ein durchdringender Ton. Er durchdringt sowohl denjenigen, der den Ton von sich gibt, als auch den, der ihn vernimmt. Der Ton bewegt ihn. Setzt in ihm die Schwingungen, die Wellen in Bewegung. Der Mensch ist eine resonante Existenz, ein Schwingungskörper. Seine eigene Stimme und die Stimme anderer können ihn in Schwingung versetzen. Die Schwingungen der gesungenen Töne treffen mit den Schwingungen des Körpers aufeinander und lösen Interferenzen aus. Doch die Klangwellen wirken auch auf andere und rufen Mitschwingungen hervor. Es gibt nicht nur ein Mit-Verstehen, sondern auch ein Mit-Fühlen. Ein Zusammen-Fühlen. Eine Co-Resonanz.

Wie ernst man den Menschen als Schwingungskörper, als resonierbares Seiendes nehmen muss, zeigt nichts besser als die neuerdings entdeckte militärische Bedeutung dieser Tatsache. Die Nachrichten von der Entwicklung sogenannter nicht-tödlicher Waffen handeln bereits seit Jahren von der Entwicklung von Schallwaffen, die auf die Wellen des menschlichen Körpers wirken, mit diesen Interferenzen bilden und in der Lage sind, indem sie diese „umstimmen”, einen Kollaps der Körperfunktion auszulösen; auf ihre Wirkung hin werden die Menschen unter anderem bewegungsunfähig. Es heißt, die Vereinigten Staaten wollen ihre Botschaften mit solchen Waffen zum Schutz vor eventuellen Massenangriffen ausrüsten, für die es – trotz diplomatischer Immunität, Exterritorialität – bereits Beispiele gab.[19]

 

Prima la musica

 

Der Tanz hört auf die Musik. Er folgt ihrem Klang. Der Tänzer befindet sich gleichzeitig im physischen Raum der Körper und Ausdehnungen sowie im grenzenlosen Bereich der Musik, der von unmessbarer Leichtigkeit ist. Beim Tanz ist der musikalische Raum maßgebend, der räumliche Charakter der Musik und ihre Bewegtheit, ihre in Bewegung versetzende Dynamik. Und dies resultiert nicht nur allein aus dem Rhythmus, sondern auch aus dem Nacheinander der Töne, was die Bewegung, die Bewegtheit der Musik selbst darstellt.

Die von Xenophon beschriebene Leibesübung und der Tanz sind aufgrund der ähnlichen Intensität der Körperbewegung vergleichbar. Doch setzt nur der oberflächliche oder verblendete Betrachter das eine mit dem anderen gleich. Das Trainieren des Körpers, die Ingangsetzung seiner Biomechanik entbehrt nämlich der Musikalität der Tanzbewegung, des mit Musik erfüllten Schwunges und Bogens der Bewegungen. Den Tanz gibt es nie für sich alleine, zum Tanz gehören Musik und Gesang. (Auch wenn es doch keine hörbare Musik gibt, so müsste man doch tanzen – wie Sorbas in dem Roman von Kazantzakis sagt, denn die Musik käme schon noch irgendwoher… Zum Beispiel aus der Erinnerung.)

Der Tanz folgt der Bewegung der Musik. Dieses Folgen erschöpft sich nicht etwa in der bloßen Bewegtheit, in der Übernahme eines identischen Rhythmus, sondern bedeutet ein Versinken im musikalischen Raum, eine Vertiefung im Raum der Musik, eine bewegte Präsenz. Dies resultiert aus dem dynamischen Charakter des musikalischen Raums, der selbst die Zuhörer in den Stuhlreihen der Konzertsäle in Bewegung versetzt.

„Die Hauptursache der Raumempfindung in der Musik liegt darin, dass das Kräftespiegel sie durchsetzt; wir projizieren diese Bewegung in einen imaginären Raum, in ein unklar vorgestelltes Auswirkungsfeld“, schreibt Ernst Kurth in seiner Musikpsychologie, „überallhin dringt damit die Beziehung zu diesem Raum.“[20]

Gleichwohl muß „man sich vergegenwärtigen, dass ihr fortwährendes, unbemerktes Einfließen in die musikalische Vorstellungswelt nicht möglich wäre, wenn nicht an sich schon eine Raumempfindung dunkel vor der musikalischen Bewegung her alle Musik erfüllte…“ [21]

Wie offensichtlich die der Musik entspringende Dynamik des Tanzes für Attila war, zeigt wohl nichts deutlicher, als dass er als „Illustration” seines Vortrages zur Kalligrafie von Lajos Szabó in den 1990er Jahren in der Budapester Kunsthalle einen Electric-Boogie-Tänzer auftreten ließ.

Doch über solche spektakuläre Gesten hinaus äußerte er sich hinsichtlich der Musik auch in einer Weise, die unmittelbarer und wesentlicher war. So beispielsweise mit einem aus der deutschen Lettre International ausgeschnittenen Artikel, den ich einmal von ihm bekam. Es handelte sich um den Essay Prima la musica. Von den Gewalten musikalischer Erfahrung von Pierre Bouretz, worin er in seiner gewohnten Leseweise mit dem Kugelschreiber in der Hand den folgenden Satz am Rand mit einem doppelten Strich markierte: „daß die Musik weniger dazu da ist, uns für dieses Leben zu trösten, denn als Einladung zu einer nüchternen Suche nach einer verborgenen Wahrheit.”[22]

Ich irre mich wohl kaum, wenn ich jene verborgene Wahrheit, zu deren nüchterner Suche der Verfasser anregt, als identisch mit dem Gegenstand der antiken und mittelalterlichen philosophisch-theologischen Musikauffassung betrachte. Umso mehr, da Attila es selten versäumte, seine Themen in einen kosmischen Zusammenhang zu stellen, und häufig – selbst im Zusammenhang mit den alltäglichsten Gegenständen – daran erinnerte, dass sich über uns der Sternenhimmel befindet. Nach diesem Musikverständnis ist nämlich die Kunst der Künste, die musica mundana, die harmonia mundi, die Musik der Welt: nicht die Summe der auf der Welt erklingenden Musiken, sondern die Welt selbst als Klang.

„Der Zauber”, schreibt Georgiades im Zusammenhang mit der griechischen Musik „den die Musik hier ausübt, ist eher mit dem Staunen vor dem Erklingen als solchem zu vergleichen. Was hier durch Kunst festgehalten wird, ist eben dieses Staunen über das Wunder des Erklingens, das Staunen darüber, daß ein Gegenstand tönt […] Das Lyraspiel aber ist das Bewußtmachen desjenigen, was uns umgibt. Es fängt die Welt als Erklingen ein. Die Musik erscheint hier nicht als Ausdrucksdarstellung, sondern als Spiegel der Weltharmonie, die der Mensch durch das Instrumentenspiel staunend entdeckt.”[23]

Dieser kosmische Bezug des Musikverständnisses ist in der Moderne allmählich verblasst. Nach dem Barock tauchte er in den musiktheoretischen und musikphilosophischen Schriften nur mehr vereinzelt auf.[24] Die neueren kosmologischen Erkenntnisse erhärten jedoch die Gültigkeit der früheren Einsichten; hier scheint die moderne wissenschaftliche Erkenntnis einzusehen, was die antike Tradition mit dem Namen von Pythagoras verband, dass der ganze Himmel Harmonie und Zahl sei.

Mich jedenfalls überzeugte hiervon das Gespräch, das ich mit dem Kosmologen Alex S.Szalay führte.[25] Der an der John Hopkins University lehrende Szalay ist einer der Leiter des im Jahr 2000 zur Vermessung des Universums ins Leben gerufenen Forschungsprojekts SDSS (Sloan Digital Sky Survey).[26] Das Projekt hat sich mit dem Einscannen des gesamten nördlichen Himmelszeltes die Erkundung der Struktur des Universums zum Ziel gesetzt, und die Tragweite dessen zeigt nichts deutlicher als die Tatsache, dass in den ersten zehn Tagen der Forschungsarbeit mehr Daten gesammelt wurden als in der Astronomie bis dahin insgesamt.

Szalay arbeitete in jungen Jahren als Musiker und entwickelte ein digitales Klavier, dessen Verfahren, das er zur Analyse der Töne anwandte und heute bei der Erforschung der Struktur von Galaxien Verwendung findet. Mit der Nutzung dieser Methode gelang in den 1990er Jahren eine Forschung, bei der sich, wie er erzählte,  Folgendes herausstellte: „Galaxien sind nur vereinzelt zu finden und dazwischen riesige Löcher […]; in der Verteilung der Galaxien folgten diese überaus regelmäßig aufeinander. Und die Entfernung zwischen ihnen betrug 300.000 Lichtjahre! […] die Ursache ist beinahe musikalisch: um das 300.000ste Jahr herum […] bildeten sich im Universum die neutralen Wasserstoffatome heraus. Vorher oszillierte das Universum als ein überaus dichtes Plasma.

Der Informationsaustausch fand in dieser Anfangszeit vor allem in Form von Schallwellen statt. Man kann sich diesen Informationsaustausch so vorstellen, als ob die Membrane einer Pauke schwingen würde. Natürlich handelt es sich im Fall des Universums um eine dreidimensionale Pauke von großer Ausdehnung. Und als die Wasserstoffatome an einem Punkt der Abkühlung des Universums entstanden, da gefror diese Membrane plötzlich in der gegebenen Schwingungsform.

Diese Membrane besitzt ebenso ihre sogenannten eigenen Schwingungen wie die Pauke, und diese kann man berechnen! Das Universum ist also […] ganz so wie eine Pauke, es erklingt beinahe mit musikalischem Klang – und dessen Untertönen [und Obertönen?]. Oder als wäre es der Klang einer Röhrenglocke, da es sogenannte Resonanzfrequenzen besitzt.

Und es stellte sich heraus, dass die kleinste Resonanzfrequenz genau mit jenem Maß des Universums identisch ist, das in dem Augenblick gerade 300.000 Lichtjahre betrug. […] Dies bedeutet, dass wir tatsächlich die eingefrorenen Überreste der einstigen Schallwellen sahen. Es kann sein, dass wir mit diesem Katalog die Spuren dieser Schallwellen gefunden haben: die in Materie gefrorene Musik. In diesem Fall hat der musikalische Hintergrund entschieden zur Deutung der Beobachtung beigetragen. Es war überaus interessant, mit dieser Hypothese zu spielen und ihre Einzelheiten zu verstehen. Zu verstehen, dass sich das Universum beinahe so verhält wie ein Instrument. Nur eben in kosmischen Maßen.” [27]

 

 

 

ERSCHIENEN in Tanzen wir Philosophie! Begegnungen mit Attila Kotányi. Hg. von Hannes Böhringer und J. A. Tillmann, Salon Verlag, Köln, 2012.; https://www.salon-verlag.de/book/tanzen-wir-philosophie/

 

COPYRIGHT J. A. Tillmann

[1] Iamblichos – Pythagoras: Legende, Lehre, Lebensgestaltung. Griechisch und Deutsch, Zürich 1963, S. 110 ff.

[2] Siehe auch Karl Kerényi: Vom Labyrinthos zum Syrtos. Gedanken über den griechischen Tanz, in: Humanistische Seelenforschung. München-Wien, 1966, S. 276.

[3] Kerényi S. 277.

[4] ton hetto logon kreitto poiein (Apologie 18b, 19c); Ekkehard Martens: Die Sache des Sokrates, Reclam 1992; Hannes Böhringer: Was ist Philosophie? Berlin 1993.

[5] Attila Kotányi: Warum schaffen sie es nicht wie wir Klängkörper, den glücksbringenden Pfad zu erwischen? Berlin, Kunstverein Gianozzo 1999. S. 5.

[6] Géza Révész: Einführung in die Musikpsychologie (1946), Berrn 1972, S. 283.

[7] A.a.O.

[8] Ferdinand Ebner: Fragmente Aufsätze Aphorismen, München 1963, S. 163.

[9] Detlef B. Linke: Hirnverplanzung. Die erste Unsterblichkeit auf Erden. Reinbek 1993. S. 260.

[10] Ebda, S. 250.

[11] Révész, S.283.

[12] Ebda, S. 284.

[13] Ebda, S. 285.

[14] Ebda, S. 284.

[15] Thrasybulos Georgiades: Musik und Rhytmus bei den Griechen. Zum Ursprung der abendländischen Musik. Hamburg 1958. S. 23.

[16] Pindar, 12. Phytische Ode. Übersetzung Georgiades

[17] Georgiades, S. 24.

[18] Berecz András: Bú hozza, kedv hordozza, Budapest 2004.

[19] in Teheran 1979, die Besetzung der Botschaft, Geiselnahme der Angestellten.

[20] Ernst Kurth: Musikpsychologie, Hildesheim- New York, 1969. S. 119.

[21] Ebda, S. 124.

[22] Pierre Bouretz: Prima la musica.Von den Gewalten musikalischer Erfahrung. Lettre International  38/1993.

[23] Georgiades, S. 23.

[24] Rolf Dammann: Der Musikbegriff im deutschen Barock, München, 1960.

[25] Ezredvégi beszélgetés Szalay A. Sándor kozmológussal In: Monory M. A. – Tillmann J.A.: Ezredvégi beszélgetések. Budapest, 2000.; http://www.c3.hu/~tillmann/konyvek/ezredvegi/szalay.html

[26] http://taltos.pha.jhu.edu/~szalay/

[27] Ezredvégi beszélgetés Szalay A. Sándor kozmológussal, w.o.

J. A. Tillmann: Laudatio auf Hannes Böhringer

2010. február 7.

Als ich davon erfuhr, dass dieses Jahr Du, lieber Hannes, den Moholy-Nagy-Preis bekommen sollst, begann ich nachzudenken, welche Parallele, Ähnlichkeiten, eventuell Übereinstimmungen zwischen dem Namensgeber und dem Preisgekrönten bestehen. Das es welche gibt, ist gar nicht so sehr selbstverständlich, zumal es sich hier um einen Künstler und um einen Philosophen handelt; selbst in dem Fall nicht, wenn der Erstere mit noch so vielen Medien der Gestaltung, angefangen von der Grafik über den Film bis hin zum Designe, arbeitete, während er auch im Bereich des reflexiven Denkens und Schreibens ein nicht gerade unbedeutendes Œuvre hinterließ, und wenn der Letztere im Bereich der Kunst zu Hause ist, man könnte sogar sagen, er wohnt – durch seine Frau Eva-Maria Schön – unter einem Dach mit der Kunst, und noch dazu stellt sie den thematischen Schwerpunkt im Großteil seiner Schriften dar. Außerdem weiß er aus Erfahrung, an unseren Universitäten stehen „Kunst, Designe und Philosophie in einer Konstellation zueinander, in der sie einander durch Anziehung und Abstoßung, durch Herausforderung, Versuchung und Ansporn – durch die fruchtbare Spannung dieser Beziehungen – gegenseitig verpflichtet sind.

Obwohl zwischen der theoretischen Arbeit von Moholy-Nagy und den kunstphilosophischen Schriften des Preisgekrönten viele Parallele zu entdecken sind, in vielen Fällen berühren sie sich sogar, ist die wesentliche Ähnlichkeit nicht in diesem Bereich zu finden, sonder in der grundsätzlichen Einstellung der beiden: beide sind fähig ihren Gesichtspunkt zu verrücken und ihre Perspektive zu wechseln und das praktizieren sie auch. Über Moholy-Nagy kann– mit einem Hinweis auf den Titel seines Hauptwerkes – nicht nur gesagt werden, dass (sein) Sehen in der Bewegung war, sondern auch, dass für seine Person selbst eine ununterbrochene Bewegung charakteristisch war, eine Bewegung zwischen den unterschiedlichsten Bereichen der Kunst und der Wissenschaft sowie zwischen den abwechselnden kulturellen Zentren, Budapest, Wien, Berlin und Chicago.

Nichts zeigt die Bewegung in den Ansichten von Hannes Böhringer besser, als die Tatsache, dass auf dem Titelblatt einer seiner auch auf Ungarisch erschienenen Bücher der Untertitel Von der Philosophie zur Kunst zu lesen ist während der Untertitel zu einem anderen lautet: Von der Kunst zur Philosophie.

Die Notwendigkeit den Gesichtspunkt, den Ort und die Ansichten zu wechseln, ist nicht ausschließlich seine persönliche oder spezifisch berufliche Eigenart, sondern eine Aufgabe, die sich für uns alle ergibt. Mit dem Unterschied, dass das in der Kunst und in der Philosophie konzentrierter, beziehungsweise reflektierter erscheint. Dieser Gedanke basiert auf der Erkenntnis, die Lajos Szabó – der Meister unseres Freundes seligen Andenkens, Attila Kotányi – folgenderweise formulierte: „die Wirklichkeit ist in Perspektiven gegeben. Das heißt, es gibt keinen einzigen ausgezeichneten Gesichtspunkt, es gibt weder eine bestimmte geistige Position, noch eine Lebenssituation, von der aus wir, wie etwa aus einem Aussichtturm, einen Überblick auf die Realität hätten und uns ein für allemal gültige Kenntnisse oder Erfahrungen erwerben könnten. Nur die Mannigfaltigkeit der Gesichtspunkte und die Reihe der Perspektiven bieten uns die Möglichkeit, die Komplexität und den Reichtum der Welt kennenzulernen. Der Prozess des Kennenlernens erfolgt durch Verrückung, Wechsel des Gesichtspunktes und Unterwegs-Sein. Diese Tätigkeit erfordert, dass man seine Position aktiv gestaltet; sie kann nicht das bloße Sich-Treiben-Lassen, das Sich-Verankern in der Scheinbeständigkeit sein. Allerdings sind wir stark dazu geneigt, dass wir uns über den Anblick vergessen, und in der Perspektive, wie auch in der Aussichtslosigkeit, die wir im Angesicht unserer Situation fühlen, festgeklebt bleiben. Der Vorschlag der antiken Philosophie für diesen Fall ist das Umdrehen, die Umwendung. Dazu bieten deine Werke zahlreiche Beispiele, an dieser Stelle möchte ich eine Passage zitieren. Du schreibst: Philosophieren bedeutet Reisevorbereitungen treffen, seine Sachen in Ordnung bringen, Koffer packen und umpacken, bis er handlich und tragbar wird. Philosophieren ist die Kunst, reisefertig zu Hause bleiben zu können.

Der Antrieb, aufzubrechen, aus dem sicheren Hafen auszubrechen, stellt sich stets ein, ob als „Aufforderung zur Reise“ allgemein, oder als der Wunsch die Gewohnheit oder eben die Provinzialität loszuwerden. Die Philosophie macht die Welt (auch ohne wegfahren zu müssen) geräumig. Sie ist Raumgewinn. (Safranski)

All das bedarf nicht zuletzt auch einer passenden Stimmung, eines entsprechenden Tons. So etwas, wie das deinen Schriften, die ihre Leser umstimmen und aufheitern können, eigen ist. Dabei spielt die Sprache, die Qualität des Stils eine wichtige Rolle. Über sie kann auch gesagt werden, was über Henry David Thoreau ein würdigender Kritiker feststellte: „Seine Sätze sind durch die Tugenden durchdrungen, die seiner Meinung nach die erforderlichen Bestandteile des Lebens eines echten Philosophen sind: Schlichtheit, Souveränität und Großzügigkeit. (János Salamon)

19.11. 2009.